Mohr im Hemd oder wie ich auszog die Welt zu retten
Bühne! Und wo sollen wir dann auftreten? Ich stehe auf. Kommt mit, sage ich und gehe zur Tür. Zögernd folgen mir Lydia und die anderen hinaus auf den Gang. Hier, sage ich, das ist unsere Bühne. Ungläubige, verständnislose Blicke. Und wo ist Publikum, will Anandyn wissen. Wir sind unser eigenes Publikum, jeder, der vorbeikommt, ist Publikum, und hier, ich deute auf die Kamera, die über unseren Köpfen den Gang im Glasauge behält, auch hier sitzt das Publikum. Lydia blickt nachdenklich nach oben. Wer kontrolliert die Kamera, will sie wissen. Es gibt Kameras im ganzen Haus, erkläre ich, die Leitungen laufen alle in der Portierloge zusammen, und die ist Tag und Nacht mit einem von drei Zivildienstleistenden besetzt. Die Blicke bleiben skeptisch, doch nach einem halbstündigen Plädoyer – ich spreche von Überwachungsstaat, von Überwachung als Unterdrückung, von der Notwendigkeit, aus der uns zugedachten Opferrolle herauszutreten, ich fordere Selbstbestimmung und Eigenermächtigung und trete für ein Theater ein, das die Realität nicht nur interpretiert, sondern sie zu verändern sucht – habe ich Lydia schließlich überzeugt.
Meine Genossinnen und Genossen haben natürlich nichts von alldem verstanden. Um auch sie zu überzeugen, beginnen wir zum Aufwärmen mit ein paar harmlos-kindischen Spielchen: Wir postieren uns vor der Kamera und geben vor, zu trinken, zu rauchen – Der ist aber nicht echt, oder, fragt Lydia mit Blick auf einen mittelgroßen, wohlgefüllten Joint, Neinnein, natürlich nicht, beeilen wir uns zu versichern – oder zu vögeln, wobei Letzteres, Diese Sendung ist für Zuschauerinnen und Zuschauer aller Altersstufen geeignet, von Nino und mir nur durch einige höchst keusche Bewegungen angedeutet wird.
Beim zweiten Streich wenden wir uns direkt an unsere Überwacher, an diesem schönen Sommertag handelt es sich dabei um den Zivildiener Hans-Jörg Bittermann. Der Titel unserer Aktion lautet Theater für einen zivilen Diener oder Bring Me the Head of HJB. Wir haben uns durch schwarze Strumpfmasken unkenntlich gemacht, haben Transparente vorbereitet, Überwacht die Überwacher, Die Revolution hat begonnen, HJB , wir holen dich, wir halten die Transparente vor die verschiedenen Kameras und dringen, im letzten Stockwerk beginnend, immer weiter Richtung Erdgeschoss und Portierloge vor. Andere Heimbewohner weichen entsetzt zur Seite, man kann Hans-Jörgs volle Hosen schon riechen, bevor wir schließlich die Tür mit einer Stange Dynamit aus den Angeln heben, Kaaawwwummmmm steht auf dem letzten Transparent zu lesen. Herr Bittermann bettelt auf Knien um sein lausiges Leben, Das ist bitter, Mann, Aber er hat sich den Job doch nicht ausgesucht, sucht die herzensgute Nicoleta in ihrer Muttersprache fürzusprechen, doch jetzt ist nicht die Zeit für Gnadenakte, jetzt ist die Zeit für Revolutionen, Du hast dir dein Schicksal ja auch nicht ausgesucht, gebe ich zurück. Nino hingegen kennt keine Zweifel nicht, auf die heilige Nino ist Verlass, sie führt ein Schwert, ein klingendes, da hat ihn unser Gott durch Weibeshand erschlagen, und in Ermangelung eines Silbertabletts trägt sie den Kopf des Zivildieners auf einem Papierteller in den gleißenden Sommernachmittag.
Für den dritten Streich bedarf es einiger Vorbereitungen, von denen Lydia allerdings nichts mitbekommt. Gemeinsam mit Jakob nehme ich nämlich ein paar kleine Manipulationen am Überwachungssystem des Hauses vor. Auch Jakob leistet Zivildienst in dieser Anstalt, auch er ist einer unserer Überwacher, ist jedoch im Gegensatz zu Hans-Jörg von praktischem Nutzen für uns, weil er ein paar Semester Nachrichtentechnik und Informatik studiert hat. Jakob stellt zwei kleine Kameras zur Verfügung, die wir unbemerkt in den beiden Aufenthaltsräumen unserer Gefängniswärter – einer im Erdgeschoss, einer bei uns im Leo – anbringen. Dann hängen wir Zettel im ganzen Haus auf: Heute um 18 Uhr beginnt die Revolution, schaltet eure Fernsehgeräte ein, heißt es da in mehreren Sprachen. Um Punkt 18 Uhr postiere ich mich in der Portierloge, von Jakob stammt das Headset mit Mikrofon, das ich trage. Das Wichtigste: Er hat das System dahingehend manipuliert, dass von allen Fernsehgeräten im Haus die Bilder der Überwachungskameras empfangen werden können. Das Ende der Unterdrückung naht, beginne ich meine Ansprache, wehrt euch gegen die Ausbeuter, überwacht die Überwacher, lasst euch diese Bevormundung nicht länger gefallen,
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