Mohr im Hemd oder wie ich auszog die Welt zu retten
versucht, Arbeit als Lehrerin zu bekommen, erzählt sie weiter, aber meine Diplome wurden nicht anerkannt. Ich hätte fast das gesamte Studium wiederholen müssen, und das mit einem kleinen Kind, ohne irgendeine Unterstützung. Mit Germanistik hatte ich keine Aussicht auf Arbeit, noch dazu hab’ ich das Studium nicht abgeschlossen; ich bin also wie alle anderen Flüchtlingsfrauen putzen gegangen. Echt? Ja, echt, antwortet Mira mit einem leichten Anflug von Ärger, und frag’ jetzt bitte nicht, wie es war, die Scheiße von anderen Leuten von der Klomuschel zu kratzen. Meine Karriere als Putzfrau hat aber nicht lange gedauert, denn ich hab’ bald Arbeit als Dolmetscherin und Übersetzerin bekommen. Zum Glück durften wir ja damals arbeiten … Davon kann man heute leider nur träumen, sagt der Lehrer seufzend, und Mira gibt ihm recht. Weißt du übrigens, wer das Flüchtlingslager im fünften Bezirk geleitet hat? Der Lehrer weiß es natürlich nicht. Heli, die Schöne Helena, klärt die Schülerin ihn auf. Sie war unglaublich, sie war praktisch Tag und Nacht im Heim. Chefica, haben sie die Leute genannt, manche haben auch Frau General zu ihr gesagt und sich ein bisschen vor ihr gefürchtet, sogar die ärgsten Kriegshelden sind vor ihr klein geworden. Der Lehrer lacht. Das kann ich mir gut vorstellen.
Es folgt wieder Schweigen, dann hört man ein schmatzendes Geräusch und Gekicher von Mira. Hör auf, du weißt, wo das hinführt, versucht sie den offenbar völlig enthemmten Herrn Neuner auf den Pfad der Tugend zurückzubringen. Erzähl’ mir lieber was von dir, etwas aus deinem Leben. Da gibt’s nicht viel zu erzählen, antwortet der Lehrer, und ich bin sicher, er hat recht. Blödsinn, widerspricht Mira. Ich hab’ nichts erlebt im Vergleich zu dir, zu irgendjemandem hier im Haus, gar nichts. Vielleicht hast du weniger er lebt, dafür aber mehr ge lebt? Vielleicht, aber da gibt es nichts oder nur wenig, das erzählenswert wäre. Möchtest du gerne tauschen? Nein, danke, sicher nicht. Es ist nur … es gibt einfach keine großen Geschichten zu erzählen, wenn man das Glück hat, ohne Krieg, politische Verfolgung, Armut und ähnliche Grauslichkeiten aufgewachsen zu sein. Es ist ein Privileg, aber es heißt auch, dass man ein ziemlich ereignisloses, eben geschichtenloses Leben führt. Aber wer weiß, fügt er nach einer kurzen Pause hinzu, wenn die Entwicklung so weitergeht wie in den letzten Jahren, dann werden wir vielleicht bald mehr erleben, als uns lieb ist. Wie meinst du das, fragt Mira, doch die Antwort des Lehrers höre ich nicht mehr, denn im selben Augenblick ertönt hinter mir ein Geräusch. Ich drehe mich um, es ist Yaya, der die Zimmertür hinter sich schließt und auf die Küche zusteuert. Was machst du, fragt er mich. Ich löse mein Ohr von der Tür, mache ein paar schnelle Schritte Richtung Küche. Nichts, sage ich leise, und was machst du hier? Ich kann nicht schlafen, sagt er. Ich auch nicht, ich auch nicht.
Später, Lukas hat das Haus verlassen und Mira sich in ihre nunmehr keusche Kemenate eingeschlossen, setze ich mich noch einmal an den Computer. Nicoletas Geschichte lässt mir keine Ruhe, noch einmal studiere ich ihre Fotos im Internet, nicht Lüsternheit treibt mich dazu, nein, sondern Sorge um meine Mitbewohnerin. Mit kühlem Blick betrachte ich ihren Körper, wie ein routinierter Frauenarzt, der angesichts von mammae und vaginae längst keine erotischen Gefühle mehr empfindet, und ebenso kühl studiere ich die Details im Bildhintergrund, die auf ein billiges Hotelzimmer schließen lassen. Auf einem der Fotos – Nicoleta, in aufreizender Pose an eine Tür gelehnt – bestätigt sich diese Vermutung: An der Tür hängt ein Schild, das mir beim ersten Mal entgangen ist, ein Fluchtplan wird sichtbar, als ich das Foto vergrößere, darunter sind Angaben zum Verhalten im Falle eines Feuers aufgelistet. Ich vergrößere das Bild noch weiter, zwar wird es unschärfer, doch es ist deutlich zu erkennen, dass die ersten Zeilen in kyrillischer Schrift wiedergegeben sind. Wie allgemein bekannt, werden ja für das Rumänische in Transnistrien kyrillische Lettern verwendet, ganz im Gegensatz zu Moldawien, wo man sich hauptsächlich des lateinischen Alphabets bedient, allerdings, so stelle ich schon nach wenigen Sekunden fest, ist der Text nicht in rumänischer, sondern in serbischer Sprache abgefasst. Nun ist also zumindest geklärt, wo die Fotos entstanden, nämlich nicht in Wien, sondern irgendwo in
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