Mohr im Hemd oder wie ich auszog die Welt zu retten
Mittagessen ist es merklich stiller, noch dazu hat Chin heute Küchendienst, ich lasse also die Finger von ihrem sogenannten Gulasch. Kamal scheint es zu schmecken, er bedient sich ein zweites und ein drittes Mal, doch Kamal dem Kamel dem Hausschwein schmeckt sowieso alles.
Auf dem Weg zu Pitra klopfe ich an Manus Tür. Seit Salvas Begräbnis habe ich ihn ein paar Mal besucht. Es scheint ihm nicht gut zu gehen, wahrscheinlich ist er schon zu lange hier und hält das Warten nicht mehr aus. Sein Mitbewohner öffnet mir. Manu ist nicht da, sagt er und wirkt genervt; er hat sich erst kürzlich bei seinem Betreuer darüber beschwert, dass Manu immer öfter auch nachts in seinem Zimmer auf und ab geht und dabei Selbstgespräche führt.
Pitra hat einen Gemüseeintopf mit vielen Tomaten zubereitet. Ich muss lächeln. Wusstet ihr, meine Lieben, dass das Agrarkommissariat der EU den heutigen Tag zum Tag der Tomate erklärt hat? Sie wussten es natürlich nicht, die Lieben. Ich hole mir zu essen und setze mich zu den anderen auf den Boden. Anunu erzählt gerade von einer Ziege, in der ein verzauberter Prinz steckt, Nuriddin malt danach einmal mehr mit Worten wunderschöne Bilder aus den Weiten der Wüste Gobi. Gjergi erzählt, wenn auch ein wenig unzusammenhängend, von jenen schönen Zeiten vor dem Krieg, als er noch mit Frau und Tochter in einem kleinen Haus in den Bergen seiner Heimat lebte.
Da kommt Oma zur Tür herein. Als sie entdeckt, dass auch Tony da ist, zögert sie einen Augenblick lang. Doch nein, nicht Oma zögert, es sind ihre Beine, die den Bruchteil einer Sekunde zu überlegen scheinen, ob sie die Bewegung fortsetzen und Omas Körper näher an Tony herantragen sollen oder nicht. Der Augenblick, von den anderen unbeachtet, für mich aber und wahrscheinlich auch für Tony allzu deutlich sichtbar, geht vorüber. Oma findet einen Platz auf einem der Sitzkissen, Pitra überreicht ihr eine Schüssel mit Tomateneintopf.
Du bist dran, sagt die Schwarze Köchin dann zu Tony. Erzähl’ etwas aus Nigeria, bitte ich ihn, von den Ogoni, vom Niger-Delta. Oma horcht auf, Tony wirft mir einen prüfenden Blick zu: Was willst du von mir, scheint dieser Blick zu fragen. Lieber nicht, winkt er ab und erzählt stattdessen die Geschichte eines Flüchtlings aus Gambia, den er vor Jahren in London kennenlernte und der zum hoch bezahlten Fußballstar wurde.
Dann bin ich wieder mal an der Reihe. Heute ist der Tag der Tomate, beginne ich, welche Geschichte würde heute also besser passen als die von Manu dem Tomatenpflücker? Manu war nicht immer Tomatenpflücker. In seiner Heimat Guinea-Bissau gibt es keine Tomaten, denn die Cashewbäume nehmen ihnen den ganzen Platz weg. Sie wachsen im Dienste fremder Herren in den Himmel und werfen profitable Nüsse in deren Taschen ab, während ringsum die Menschen verhungern. Manu besitzt die Frechheit, nicht verhungern zu wollen. Er will nach Spanien, Spanien liegt in Europa, in Europa sind die Menschen reich, sie wohnen in großen Häusern, haben teure Autos und genug Geld für alles, was sie brauchen, Manu weiß das aus dem Fernsehen. In Spanien braucht man Tomatenpflücker, auch das weiß er aus dem Fernsehen, die Tomaten warten schon auf ihn, Wo bleibst du, flüstern sie. Manu macht sich auf den Weg durch die Wüste, doch das kostet Zeit, es ist nicht ganz ungefährlich, nicht jeder überlebt es, manche bleiben auch irgendwo hängen. Manu schafft es, er erreicht das Meer, das mittlere, er blickt nach Norden, Richtung Europa, Europa ist ein schmaler Streifen am Horizont, es sieht nicht so beeindruckend aus, wie er sich das vorgestellt hat. Wo bleibst du, Manu, rufen die Tomaten, nun schon ganz ungeduldig, doch Manu muss erst einen Weg finden, wie er das Meer überqueren kann. Es kostet Geld, es ist nicht ganz ungefährlich, nicht jeder überlebt es, manche gehen auch irgendwo unter.
Das Boot, mit dem Manu das Meer überquert, ist winzig, es ist voll gepfercht mit Menschen, die wie er alles daransetzen, nach Europa zu gelangen. Das Meer ist aufgewühlt, das Boot schaukelt bedrohlich, Manu kann genauso wie die meisten anderen nicht schwimmen. Er sitzt ziemlich weit hinten, es ist Nacht, man kann nicht viel sehen, weiter vorne, dort, wo ein schönes junges Mädchen sitzt, das Manu schon vor der Abfahrt aufgefallen ist, wird es unruhig, man sieht schemenhafte Bewegungen, man hört erstickte Schreie, die halb vom Fahrtwind überdeckt werden. Hört auf, ruft Manu nach vorne, er ruft ein zweites
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