Mohr im Hemd oder wie ich auszog die Welt zu retten
hat, so lange kann ich Isabel natürlich nicht warten lassen, ich kehre also zurück und nehme, atemlos und pochenden Herzens, zu meiner Liebsten Linken Platz. Tony ist einverstanden, berichte ich, und sie heißt mich willkommen im Zahlenparadies, nimmt mich auf im Schoße der Arithmetik und führt mich ein in die Geheimnisse der Geometrie.
Amal gibt mir vom ersten Tag an mit säuerlichen Blicken zu verstehen, dass ich ihr nicht willkommen bin, doch in Wahrheit ist natürlich sie der störende Klotz am Bein, sie ist es, die die Vollkommenheit unserer Kreise stört. Wäre Amal nicht, ich weiß es, ich fühle es, würden Isabel und ich natürlich sofort übereinander herfallen, würden ineinander versinken, weil wir füreinander geschaffen sind. Die wunderbare Welt der Zahlen ist ja doch mein heimliches Zuhause, Arithmetik und Geometrie waren mir immer schon die liebsten unter den septem artes liberales, und das umso mehr, wenn man von so schönen doctorae unterwiesen wird.
Isabel hat als junges Mädchen zwei Jahre in Gambia verbracht, ihr Vater arbeitete dort im deutschen diplomatischen Dienst, sie hat schöne Erinnerungen an jene Zeit und teilt sie gerne mit Amal. Doch Amal, die ja nach eigenen Angaben aus Gambia stammt, schweigt zu Isabels Erzählungen, und wenn sie einer Frage nicht ausweichen kann, sind ihre Antworten kurz und vage. Liegt es daran, dass Isabel in der Hauptstadt Banjul, Amal hingegen in einem kleinen Dorf im Osten des Landes gelebt hat? Daran, dass es zwischen der Welt eines Diplomatenkindes und derjenigen einer Durchschnittsafrikanerin zu wenige Berührungspunkte gibt? Verbindet Amal so schlimme Erinnerungen mit Gambia, dass sie nicht darüber sprechen will oder kann? Oder bestätigt sich, was ich schon zuvor vermutet habe, dass nämlich Amal gar nicht aus Gambia, sondern aus einem anderen afrikanischen Land kommt? Sie spricht Mandinka, und das ist, wie jeder weiß, die am weitesten verbreitete Sprache in Gambia, doch das beweist gar nichts, denn Mandinka wird auch in einigen anderen Ländern Westafrikas gesprochen. Ich denke an Yaya, ich weiß auch von anderen, denen man geraten hat, ihre Dokumente zu vernichten oder zu verstecken und sich eine andere Herkunft zu erfinden, um im Asylpoker, Einsatz: 1 Menschenleben, wenigstens etwas bessere Karten zu haben. Doch genug, genug von Amal, um sie geht es hier ja gar nicht, denn es wäre nicht rechtens, über Amal zu sprechen, wenn es doch gilt, Isabel zu lobpreisen: Sprichst du von Hypothenusen, pocht mir das Herz im Busen, denn Sinus, Tangens, Kosinus sind für mich niemals Überdruss, drum schick’ ich dir per Boten ein Sträußlein Asymptoten und werde dir aus Primzahlen ein Bildnis deiner selbst malen.
Im Minnedienst vergeht der November wie im Flug, und schon beginnt sie, die stillste Zeit im Jahr, die selige, gnadenbringende Weihnachtszeit. Kling Glöckchen, klingelingeling, singen wir gemeinsam mit Tony am ersten Adventsonntag. Tony ist ein begnadeter Sänger, in den zehn Jahren, die er nun in diesem Land lebt, hat er sich ein beträchtliches Repertoire an deutschsprachigen Liedern für jede Gelegenheit angeeignet, sogar solche in den verschiedenen österreichischen Dialekten kommen ihm über die wulstigen Lippen. Wenn Herr Azibaola Es wird scho glei dumpa anstimmt, dann vergessen wir Kinderln unsern Kumma, unser Load, besser geht’s nicht, das ist Integration in höchster Vollendung! Und über Tonys profundem Bass und dem armseligen Gequäke meiner Mitbewohner schwebt Isabels Engelssopran, hört nur, wie lieblich es schallt! Als Nächstes folgt Leise rieselt der Schnee, wir denken dabei natürlich an Afrim, und Djaafar und ich lassen den festlichen Tag zwar nicht mit Schnee, dafür aber mit Gras ausklingen: Denn alles Fleisch, es ist wie Gras, singen wir bei unserer ganz privaten Adventfeier, gefolgt von The Green, Green Grass of Home.
Wer klopfet an, stimmen wir am zweiten Adventsonntag mit verteilten Rollen an, Ein paar gar arme Leut’, antwortet der Chor, Was wollt ihr dann, heißt es weiter, O gebt uns Herberg heut’, lautet der Antrag, der natürlich mit einem ablehnenden Bescheid abgeschmettert wird. Ihr Kinderlein kommet, ist unser nächstes Lied, doch es muss sich dabei um einen gröberen Druckfehler handeln, mache ich Tony aufmerksam, es sollte wohl heißen Ihr Kinderlein gehet, o gehet doch all, so bleibt doch woanders auf diesem Erdball, ob Hunger, ob Krieg, ob ein böser Tyrann, lasst uns doch in Frieden, das geht uns nichts
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