Mohr im Hemd oder wie ich auszog die Welt zu retten
an.
Die stillste Zeit im Jahr, ach ja. Unsere Wärterinnen und Wärter hetzen wie die anderen Eingeborenen von Geschäft zu Geschäft, Jingle Bells am Vormittag, Rudolph the Red-Nosed Reindeer am Nachmittag, Still, still, still, weil’s Kindlein schlafen will, singe ich fürsorglich für Hans, der eine anstrengende Weihnachtsfeier mit seinen Jazzplattenbrüdern hinter sich hat und sich seufzend durch den Tag schiebt. Jaja, die fortschreitende geistige Umweihnachtung, sie fordert ihre Opfer …
Zwar singen wir mit Tony Weihnachtslieder, backen mit Mira Weihnachtskekse und basteln mit Zakia Weihnachtsschmuck, fröhliche Weihnacht überall also, doch abgesehen davon geht es im Haus nicht gerade besinnlich zu. Zwei Wochen vor dem Friedensfest bekommt Gülertan Dolas ein amtliches Schreiben zugestellt, die Beschwerde gegen den negativen Asylbescheid wurde abgewiesen, das dritte und letzte Leben ist verwirkt, er kann also von nun an jederzeit abgeschoben, die Familie dadurch zerrissen werden. Am Tag darauf wird Zakia plötzlich ohnmächtig, der Onkel, Nino und ich sind zufällig Zeugen, als sie auf dem Gang vor dem Büro zu schwanken beginnt und nach zwei, drei Schritten zusammmensackt. Der Onkel und ich helfen ihr auf, als sie Sekunden später wieder zu sich findet. Ich habe plötzlich schwarz vor Augen gehabt, sagt sie, sie setzt sich auf eines der Sofas im Wohnzimmer, Nino bringt ihr ein Glas Wasser. Der Onkel, der nach sechs Semestern Medizinstudium den Arztmantel gegen die Sozialarbeiterzwangsjacke tauschte, fühlt Zakia den Puls. Hast du gefrühstückt, fragt er streng. War keine Zeit, antwortet die bleiche Patientin. Der Onkel-Doktor verschwindet und kommt kurz darauf mit einer Tafel Schokolade wieder. Drei Mal täglich zwei Rippen und außerdem Schongang bei der Arbeit, verschreibt er, und mit einer mündlichen Überweisung zur gründlichen Untersuchung lässt er die Patientin zurück. Am gleichen Tag gibt es noch einen weiteren Schwäche- beziehungsweise Krankheitsfall: Nicoleta übergibt sich in ihrem Zimmer, sie schafft es nicht mehr rechtzeitig auf die Toilette, am Tag darauf passiert ihr das Gleiche noch einmal. Ich muss wieder an ihren Ohnmachtsanfall beim Kurs denken und auch an Frau Helgas Worte: Die Kleine ist schwanger, hundertprozentig. Hat sie recht? Nicoleta sagt Nein, meint Nino, die ihre Zimmergenossin darauf angesprochen hat, von wem denn auch, setzt sie ein wenig abschätzig hinzu. Nachdem an den nächsten beiden Tagen weitere Übelkeitsanfälle folgen, begleitet Zakia Nicoleta ins Krankenhaus. Ich mache auch gleich eine Untersuchung, sagt sie zum Onkel. Bei Zakia kommt zum Glück außer erhöhten Cholesterin- und Blutdruckwerten nichts Schlimmes ans Tageslicht. Aber du solltest trotzdem leisertreten, tritt ihr der Onkel erneut auf die Zehen. Jaja, antwortet sie wenig überzeugend. Nicoleta muss einige Tage im Krankenhaus bleiben, nicht Schwangerschaft, sondern bulimische Anorexie lautet schließlich die Diagnose, die Dr. Idaulambo natürlich schon längst gestellt hat, sie bekommt bunte Pillen verschrieben und wird zum Stammgast in der hauseigenen Gummizelle.
Und ein weiterer Mitbewohner muss ins Krankenhaus: Gjergi. Die letzten Wochen hat er hauptsächlich im Bett verbracht, ohne jedoch Erlösung im Schlaf zu finden, und mittlerweile ist er so geschwächt, dass er nicht mehr alleine aufstehen kann. Trotzdem wehrt er sich, als er abgeholt werden soll. Ich bin nicht krank, sagt er immer wieder auf Albanisch. Wir können dich hier nicht gesund pflegen, redet Betreuerin Bojana auf Serbisch an ihm vorbei. Im Krankenhaus, wo ich ihn besuche, bekommt er Infusionen, bei den Untersuchungen bestätigt sich jedoch, was er selbst behauptet hat: Herr Halimi ist gesund, meinen die Ärzte, es fehlt ihm nichts. Doch, widerspricht Dr. Idaulambo, was Herrn Halimi fehlt, geschätzte Kolleginnen und Kollegen, ist der Lebenswille.
Am Tag von Gjergis Rückkehr aus dem Krankenhaus hat Mira Dienst. Draußen stürmt und schneit es, drinnen scheint die Sonne, doch nicht etwa Miras wegen, denn meine Gefühle für sie sind schon lange, sehr lange schon erkaltet, nein, es ist natürlich Isabel, deren Anwesenheit mir Herz und Seele wärmt. Führ mich ein in die Mysterien der Mathematik, du Neunmaldreimalkluge, meine Begierde nach Wissen kennt keine Grenzen, Tochter der eulenäugigen Göttin, du! Wir durchmessen Kreise, umfangen Ellipsen, wir werfen einander Zahlen zu, hin und her und her und hin, wir jonglieren damit,
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