Mohr im Hemd oder wie ich auszog die Welt zu retten
während wir auf dem Trapez hoch droben im Zirkus der zauberlichen Zahlen schaukeln. Von Zeit zu Zeit stelle ich artige Fragen, heuchle Unwissenheit, um den Schein zu wahren, dass ich der Nachhilfe bedürfe, wo mein Begehr doch einzig und allein und ausschließlich und nichts als die Liebe ist.
Ich habe gelernt, Amals Anwesenheit bei diesen sogenannten Nachhilfestunden völlig zu ignorieren. Von außen betrachtet sind wir zu dritt, in Wahrheit kann jedoch nichts und niemand unsere traute Zweisamkeit stören. Wir sitzen in der Küche, weil die anderen Kursräume besetzt sind, Und wie berechnet man den Umfang des Kreises, fragt Isabel gerade. Ich setze zu einer Antwort an, die Zahl π mit den ersten Hundert Kommastellen liegt auf meiner Zunge bereit, plötzlich kommt ein Mann herein und fragt nach Mira. Unwillig blicke ich auf. Ich habe den Mann noch nie gesehen, wenn er unten wohnt, dann muss er neu im Haus sein. Ich will ihn möglichst rasch wieder loswerden, um mich ungehindert meiner Rechenkönigin widmen zu können. Ist sie nicht im Büro, frage ich kühl, doch er blickt nur fragend zurück. Irgendetwas in seinem harten, zugleich aber verlorenen Blick, etwas in seinem gebrochenen, südslawisch gefärbten Deutsch lässt mich aufschauen, aufhorchen, schließlich aufstehen. Ich gehe mit ihm hinüber zum Büro, klopfe an und öffne die Tür. Mira steht gerade an der Kaffeemaschine, ganz kurz und schwarz und ohne Zucker, so pflegt Frau Obranović ihren Espresso zu trinken, manchmal aber, wenn die Zeit es zulässt, bereitet sie türkischen Kaffee zu und schlürft dann nachdenklich das Sarajevo vergangener Tage in sich hinein, den Zerstücklern und Zerstörern ihrer Heimat zum Trotz. Mira, sage ich, der Mann hier will zu dir. Sie blickt auf, und von da an passiert alles in Zeitlupe. Ihre Augen weiten sich, die Kaffeetasse entgleitet ihren Händen, der Kaffee zeichnet braune Schlieren in die Luft, die Tasse dreht sich, schlägt auf dem Boden auf und zerbricht in mehrere Teile, die Kaffeeschlieren ergießen sich über Miras Hose. Mladko, sagt sie tonlos, Mladko, dann geht sie ganz langsam auf ihn zu, auch er macht zwei oder drei Schritte vorwärts, sie stehen einander gegenüber, Mira legt zuerst die Hand auf seine Schulter, als wollte sie sich vergewissern, dass es sich nicht um eine Erscheinung, eine Halluzination handelt, dann, zögerlich, vorsichtig, mit steifen Bewegungen, umarmen sie einander.
Trotz großer Versuchung lasse ich sie allein in ihrer Umarmung, der Anstand gebietet Abstand, ich schließe die Tür hinter mir. Eine halbe Stunde bleibt sie geschlossen, dann treten die beiden heraus, Mira mit geröteten Augen, Mladko mit verschlossenem Gesichtsausdruck, beim Mittagessen, das sie gemeinsam mit uns einnehmen, wechseln sie kaum ein Wort miteinander. Mladko verabschiedet sich, kommt allerdings ein paar Stunden später mit einer Reisetasche wieder. Miras Mann ist zurück, tönt es bald in verschiedenen Sprachen durchs Haus, Miras Mann ist wieder da, weiß schon nach kürzester Zeit jeder, der es wissen will, Hast du schon von Miras Mann gehört, werden aber auch jene gefragt, die weder Mira noch ihre Geschichte kennen.
Mladko Obranović, hinabgestiegen in das Reich des Todes, im zwölften Jahre auferstanden von den Toten, kehrt er nun zurück, um zu richten die Lebenden und die Toten? Ich folge ihm und Mira, als sie abends gemeinsam das Haus verlassen und Miras Wohnung ansteuern. Mira hat sich, so erwähnte sie einmal Lukas gegenüber, nie dazu überwinden können, Mladko für tot erklären zu lassen, offiziell sind sie also immer noch Mann und Frau. Die Frau sperrt auf, der Mann tritt hinter ihr ins Vorzimmer, stellt die Tasche ab, zieht die Schuhe aus, dann folgt er Mira ins Wohnzimmer, blickt sich verunsichert um. Auch Mira ist unsicher, sie sind einander vertraut und doch fremd, sind Mann und Frau und gleichzeitig irgendein Mann, irgendeine Frau, und auch die Wohnung, seit Jahren gewohnte Umgebung für Mira und ihre Tochter, erscheint ihr, wie ich deutlich bemerke, mit einem Mal in fremdem Licht.
Möchtest du etwas trinken, behilft sich Mira mit unverfänglichen Gastgeberfragen. Mladko verneint. Willst du duschen? Er nickt, sie zeigt ihm das Badezimmer. Es ist winzig, sagt sie entschuldigend und reicht ihm ein Handtuch. Ich mache währenddessen etwas zu essen, ich habe von gestern noch Djuveč, das ist … das war … das ist doch eine deiner Lieblingsspeisen, oder? Mladko nickt. Als hätte ich gewusst,
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