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Momentum

Momentum

Titel: Momentum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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Wir Übrigen sind schuldig, weil wir aussehen, wie wir aussehen, diese Kleidung tragen, diese Miene machen oder mit dieser Miene Widerworte geben. Der Finger des Betrunkenen findet jede Brust, klopft an jeder, rempelt jede Existenz an.
    Doch die Bahn bremst schon ab, er hat den Halteknopf gedrückt, er wird aussteigen und nur die Alte verschont haben. Jetzt steht er an der Tür, glasig die Außenwelt absuchend nach neuen Entzündungsherden. Dann aber tut er doch noch unerwartet einen Sprung, den man ihm in diesem Zustand kaum zugetraut hätte, ist mit seinem Kopf plötzlich unmittelbar vor dem Mütterchen und faucht seinen Bieratem direkt in ihr panisches Gesicht:
    »Omma, du bist ’n Lump!«
    Der Ernstfall ist da. Und »Omma« wimmert wie eine Bestusste, und der Trunkene hängt wie ein Ballon direkt vor ihrem Gesicht. Kein Schaffner, kein Fahrgast kann den beiden jetzt noch helfen, und trotzdem ist in dieser innigen Betrachtung beider, in der Panik wie im Kollaps der Aggression, plötzlich Ruhe.
     
    Der Mann druckst herum. Die Dame glaubt zu wissen. Sie ermuntert ein Geständnis, das sie anschließend genüsslich mit Ablehnung quittieren wird. Hören aber möchte sie es schon.
    »Spucken Sie’s aus«, sagt sie.
    Er mag die Formulierung nicht, aber die Aufforderung.
    »Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.«
    Sie brennt jetzt darauf, die Lyrik seines Herzens zu ernten. Es ist Spott in ihren Zügen.
    »Verstehen Sie«, sagt er, »ich werde ›ich‹ sagen müssen.«
    Zwischen dem ersten und dem zweiten »Ich« stumpft ihre Miene ab.
    »Ich hab Geborgenheit, ich hab Ansprache«, sagt er gerade. Sie reagiert auf dieses »Ich« wie auf etwas Geruchliches, wie eine Frau, die sich vor dem Mann ekelt, ihn nicht küssen will, seit man ihm eine Pavian-Leber eingepflanzt hat. Ihre Züge haben sich hinter die große Undurchsichtigkeit zurückgezogen. Nein, sie möchte jetzt gerade so wenig mit ihm zu tun haben, dass sie ihn nicht einmal ablehnen mag.
     
    Wir küssen uns auf den Straßen von Minsk. Man kann den Staat, seine politischen Autoritäten, die Gegenwart der Exekutive im öffentlichen Raum, man kann die Diktatur fühlen, den Schrecken. Als ich die Augen öffne, ist ihr Blick starr und unverwandt auf eine Erscheinung hinter meiner Schulter gerichtet:
    »Aber wo siehst du denn hin?«
    »Da kommen doch die Soldaten!«
     
    Auf einer Parkbank in Weißrussland lerne ich den ersten einheimischen Bürger dieser Stadt kennen, er heißt Mikail, verstehe ich. Unfähig, eine Sprache zu finden, die wir beide sprechen, brauchen wir dann eine Viertelstunde für die Mitteilung, dass sich sein Freund Werner aus Langen bei Essen hier in Minsk ein Keramikgebiss hat machen lassen, das in Deutschland das Vierfache gekostet hätte. Um das zu verstehen, muss ich Mikails Gesicht entziffern, sein Mund-Inneres sehen, muss ihn deuten, mich in seine Züge versenken, als wolle ich ihn küssen. Wir sagen uns zum Abschied, dass es schön gewesen sei, sich kennengelernt zu haben. Das haben wir nicht. Doch hat uns das Keramikgebiss seines Freundes Werner die »Ode an die Freude« ersetzt.
     
    Ein Mann, der vor mir geht, holt mit der Hand so heftig aus, dass ich instinktiv mein Gesicht mit dem Arm schütze. Es liegt aber nur ein offenes Kirchenportal in seiner Blickrichtung. So bekreuzigt er sich in einer Achse mit dem Hochaltar, vor dem gefolterten Religionsstifter neben der Blumenampel in der Apsis und dem Ewigen Licht. Unsere Gesten rücken zusammen. Er, Jesus, ich, wir erstarren alle in unserer typischen Handbewegung.
     
    Nun sitze ich auf meinem Hotelbett in Minsk. Es ist schmal und hängt durch. Das Licht ist zum Lesen zu schwach. Dafür ist der Hof ruhig, und es hat zu regnen begonnen. Ich muss also nicht vor die Tür, auf der Fährte von Unauffindbarem. Ich entschließe mich, müde zu sein. Regen entlastet. Und wenn Vassili geschwindelt hätte und es doch noch eine Stadt gäbe, jenseits der Stadt, die ich sah? Kaum öffne ich das Fenster, rauscht die Straße herein. Allerdings riecht der Regen gut, und der kleinbedruckte Kordvorhang erinnert an etwas, das man »Maßliebchen« nannte. Und die Lampen haben Keramikschalter, die man noch drehen muss wie in Zeiten von Luftschutzkellern. Ich habe ein Interview mit Jennifer Connelly gelesen und den letzten Satz eines Tennisspiels gesehen. Die Schmallippige kämpfte gegen die Dickschenkelige. Mitten darin überfällt mich ein Gefühl von Abscheu gegen die gereckte Faust des Ehrgeizes bei der

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