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Momentum

Momentum

Titel: Momentum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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Lüsterne ist in diesem Augenblick selbst vom Verderben seiner Lust erreicht. Doch wie er die Kupplerin ansieht, ist es körperlose Pornographie.
     
    In diesem Gerümpelladen in Havanna stapeln sich an der Kasse regierungstreue Postkarten, auf einem Regal außerdem zehn Aquarien mit kleinen Zierfischen, unbeleuchtet, ohne Sauerstoffzufuhr. Einige schwimmen schon tot an der Oberfläche, andere haben helle Flecken oder Pigmentstörungen und irren in erschlaffter Panik durch das Brackwasser. Auch diese Fischchen stammen aus einer anderen Zeit. Sie bezeugen die Wirklichkeit dieser Zeit als Hinterlassenschaft einer Herrschaft, die ging und nicht an alles dachte, was einmal ihretwegen an Land und in die Stadt gebracht worden war, wo es jetzt, ohne Herrschaft, stinkt, verfault und zerfällt. Wie kommt man unter die Haut einer Stadt? Man findet sich plötzlich dort. Sie gibt sich unwillkürlich einen Ausdruck. Und schon steht man im Anfang einer Geschichte.
     
    Der Händler mit der Tasche voller Wurzelholz-Skulpturen setzt sich zurück an den Tisch und knüpft an die liegengebliebene Unterhaltung wieder an. Die beiden kleinen Serviererinnen nehmen am benachbarten Tisch Platz und spielen das Spiel, bei dem man die zusammengelegten Hände hinhält und sie flink dem Schlag des Gegenübers entziehen muss. Sie spielen das Spiel witzlos langsam, denn sie hören zu, was der Händler in seiner Sprache erzählt. Manchmal redet auch die eine der Frauen beschaulich und halb abwesend zu ihren Händen hin. Es ist wie Unterwasserballett, ihr Spiel gedrosselt von seiner Erzählung, und diese erreicht ihre höchste Verdichtung, als die Mädchen die Hände sinken lassen und die Erzählung die Oberhand gewonnen hat.
    »Was ist das für eine Geschichte, die Sie da erzählt haben?«, frage ich den Mann, als seine Zuhörerinnen wieder an die Arbeit gegangen sind. »Es ist die Geschichte des weißen Mannes«, sagt er. »Der lebt unter Pygmäen. Was soll er machen: Die großen historischen Leistungen wurden schon alle vor ihm vollbracht: Christen vor die Löwen, der Bau der Chinesischen Mauer, es ist eine Tragödie. Doch mit Hilfe seines Glaubens, eines Fieberthermometers und eines Küchenquirls wird er erst zum Medizinmann, dann zum Gott.«
     
    Manchmal sieht man es ihnen an, den Menschen, wie sie ihre Sehnsucht nach dem künstlerischen Ausdruck verbergen, vielleicht weil sie sich darin so analphabetisch fühlen, weil er ihnen peinlich ist. Aber wenn sie ein Foto machen, sich hinhocken, damit die Spitzen der Blüten im Beet an den Rocksaum der Geliebten stoßen, oder wenn sie ihr Essen auf dem Teller so drapieren, dass er für einen Moment noch schöner wirke, dann ist er wieder da: der Wunsch, etwas persönlich zu meinen, einen Nachweis des eigenen Selbst zu erbringen. Sonst, so sagt das Gesicht des Mannes, der sein Essen mit der Gabel arrangiert, sonst muss man schon etwas sehr Unvernünftiges tun, um in seiner Individualität überhaupt bemerkbar zu sein.
    Und mitten hinein platzt das Ereignis und behauptet seine Macht gegenüber der Gestaltung, der Rhetorik. Manchmal ist der Frohsinn dies Ereignis, der Frohsinn, der schon Freude macht, bevor man ihn versteht. Ja, auch der Individualist hebt jetzt den Kopf vom Teller und ist unwillkürlich, wie alle, nicht beim Witz, sondern beim Gelächter. Wir lachen nicht über die Pointe, wir lachen mit der Heiterkeit.
     
    »Sieh mal«, sage ich mit sinnlosem Pathos, als wir in eine Allee mit lauter verstreuten Blättern auf dem nassen Asphalt einbiegen, »sieh mal, wie schön das Leben ist.«
    »Ja«, erwidert sie, »man kann überall parken.«
    Im Deplatzierten schläft die Kunst, im Scheitern der Verständigung, dort, wo die Enden flattern und das Bedeuten ins Leere geht. Insofern ist die Stelle, an der die Verständigung abbricht, die künstlerische. Alleingelassen mit der Schönheit der Straße, erscheint sie mir gerade noch schöner.
     
    In die Straßenbahn steigt ein Betrunkener, lautstark, unzufrieden mit allem, was er sehen muss. Er randaliert. Es sind aber nicht die Verhältnisse allein, die ihn auf die Palme bringen, es sind auch die Menschen, genauer die Fahrgäste, genauer, die Mitreisenden in dieser Bahn, genauer, wir sind es. Deshalb nimmt er sich uns im Vorbeitorkeln einen nach dem anderen vor.
    Dass gleich auch ihr Stündlein geschlagen haben wird, weiß die gläserne, zittrige Alte in der Bank vor mir, sinkt in ihrer Furcht immer tiefer in den Sitz und wird auch offenbar übersehen.

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