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Momentum

Momentum

Titel: Momentum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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Schmallippigen. Zugleich bin ich froh, eine Haltung, irgendeine Haltung zu haben und das Bild nicht Bild sein lassen zu müssen, denn immerhin war ich erst für die Schenkel, dann gegen die Faust. Die 22 -Jährige gewinnt ihre erste große Partie ohne eine Spur von Freude. Selbst nach dem Spiel ist nichts als Arbeit in ihren Zügen, Arbeit und die Würde der erfolgreichen Öffentlichkeitsarbeiterin. Wie ein Sumoringer, so würdig ist sie. Ich habe die Pistazien aus der Minibar gegessen, dann ein Mars, gleich mache ich mich an den Wodka, weil man, Vassili zufolge, die Stadt nicht verlassen soll, ohne ihn genossen zu haben. In der Tat: nussig schmeckt er und tut gleich seine Wirkung. Die Uhr ist eine Stunde weiter. Sie kommt mir entgegen.
     
    Als ich mich in einem ukrainischen Park einmal allein fühle, sehe ich rechtzeitig, wie ein Pudel eine viel größere Terrierfrau von hinten so heftig nimmt, dass sie zittert wie im Schleudergang. Es steht ein Ehepaar daneben und mustert dasselbe. In den Augen der Gattin, deren Kleidung man wahlweise als »Porno Chic« oder »Sex Trash« bezeichnen kann, vollzieht sich ein Umschlagen des wohlwollend indifferenten in den bösen Blick: als sei der Körper des Gatten plötzlich ein Sack. Warum bin ich anschließend weniger allein?
     
    Man hat doch nur Gedanken, weil man es nicht aushält, keine zu haben. Ein Reflex ist der Gedanke, Ausdruck einer Unfähigkeit, nicht zu denken. Die Angetrunkene im Gasthaus, mit ihren elegisch verflochtenen Beinen im Minirock dem zugeneigt, der sich gerade erst neben sie gesetzt hat, sagt:
    »Du kannst Karate, du hast zwei große Koffer, ich vertrau dir, ich hab Menschenkenntnis, da scheißte dich an, ich vertrau dir spontan, gut, liegt auch an deinen beiden Koffern, aber auch, weil du so schnell und präzise antwortest. Mensch, du bist ein Chef, du hast Charakter, da gratulier ich dir. Ich interessier mich für alles. Ich bin Philosophin, sage ich dir. Warum bellt jetzt der Hund, wau, wau, warum macht der das? Wie kommt das Wau in die Materie? Verstehste? Das sind Fragen, die mich beschäftigen. Und ich versteh nach wie vor Albert Einstein. Ich mein, warum der auch letzten Endes solche Fragen hatte.«
    Der Barmann ruft aus dem Schutz der Theke: »He, Brigitte, lass den Mann in Frieden und mach mal ’nen roten Oberschenkel!«
    »Und ich sach noch«, sagt die Frau noch und errötet nicht, »guck dir den Typen an, und du weißt: Die Liebe ist ein Vierfüßler.«
     
    Da stehen zwei Männer in einem Clubkonzert hinten im Saal an eine Säule gelehnt.
    »Du bist doch«, insistiert der junge dem unjungen gegenüber, »nicht nur in diese Zeit, du bist auch in die Fragen deiner Zeit hineingeboren. Denk doch mal nach!«
    Der andere hört zu mit stumpfem Gesicht, weiß nicht, was die Fragen seiner Zeit sind, wo sie stehen, wer sie stellt, und die Antworten sind ihm jedenfalls schon jetzt egal. Dann aber dämmert ihm das Pathos der Fragestellung, er zieht mit spitzen Fingern ein Taschentuch heraus, um sich unter der Nase bedeutungsvoll und hochindividuell herumzufeudeln.
    »Danke«, sagt auf der Bühne gerade der Sänger, den die menschliche Gemeinschaft noch vor kurzem hinter Schloss und Riegel gebracht hatte, zum Schutz vor sich selbst und zum Selbstschutz der Gesellschaft, »danke«, tritt ins Zentrum des Lichtkegels und verneigt sich vor seinem Publikum: »Ich danke Ihnen.«
     
    Eine Singstimme, die wie ein Kork über das Wasser kommt, sie liegt auf dem Glitzern, als wolle sie nirgendwohin, nur schwimmen. Allerdings bricht sie im Augenblick, als sie sich auf die Gefahr des Schönsingens einlässt und beginnt, sich auf sich selbst zu konzentrieren. Jetzt wird sie tollwütig, hebt zur Wahnsinnsarie an. Sie ist nicht fertig, fliegt immer noch hoch, als sich der Alte, wie mitten aus dem Gespräch, zu mir beugt und flüstert:
    »Dann ist es, zumal im Alter, doch besser zu denken, dass man auf dem falschen Stern lebt, als zu erfahren, dass es den richtigen gar nicht gibt.«
    Sein Hecheln mischt sich in den Gesang, der gerade aus hoher Höhe stürzt und strauchelnd zum Erliegen kommt im einsetzenden Jubel. Der Alte aber ist noch bei seinem Satz und macht eine Bewegung durch die Luft, als wolle er einhändig klatschen.
     
    Ich höre ihr zu. Zwischendurch fragt sie auch. Sie ist kapriziös, wendig, sie versteht etwas von den Worten. Aber immer wieder steckt sie Scherben in ihre Gedanken. Es gibt etwas, das dauernd widerspricht, Wunden reißt, Probleme macht. Will

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