Momentum
ich mich innerlich abwenden, weil sie mir zu fremd wird, hat sie im nächsten Augenblick eine Metapher, so suggestiv, dass ich noch in sie hinunterblicke, als der Redefluss längst darüber hinweggegangen ist.
Sie erzählt Eskapaden, was »von Escape« komme, sagt sie, schont sich nicht, schreckt auch nicht davor zurück, zu erzählen, wie sie hinter zugezogenen Vorhängen in einem Londoner Hotel die Hose ablegte, ihr Becken einem Mann entgegenreckte und mit dem Finger auf ihre Scham zeigte: »Hier spielt die Musik!« Der Mann war »tauglich«, sagt sie, »imstande«, und er kannte die Gangstersprache für alles Sexuelle. Macoula: der Schwanz. As: der Hintern. Zwicky: die Vagina.
»Ich hab ihn gefragt: Wie sieht dein Schwanz aus? Hat er gesagt: Wahrer als die Wirklichkeit. Gefiel mir, aber ich hab gesagt: Gefällt mir nicht.«
Ihre Ablehnung ist unsachlich und unverhältnismäßig. Trotzdem könnte es sein, dass wir uns am Ende des Abends küssen oder nie wieder sehen wollen, schlecht voneinander reden und unsere Integrität in Frage stellen. In diesem Augenblick aber ist nichts von alledem. Jetzt sind wir bloß gespannt, und im Medium dieser Reizbarkeit liegt gerade die einzige uns verfügbare Empfänglichkeit. Sie bemerkt es, erschrickt und produziert eine atemlose, musikalische Pause:
»Merkst du – jetzt – wir stehen uns unmittelbar bevor!«
Auf der Rolltreppe bleibe ich hinter einem Mädchen in gemustert abgesteppten Cowboy-Stiefeln stehen. Eine Laufmasche überquert die Wade, senkt sich in die Kniekehle, verschwindet mit breiter werdenden Sprossen weiter oben unter dem Rocksaum. Der Atem einer einfahrenden U-Bahn saugt die Luft durch ihr Haar hinunter in den Schacht. Es riecht nach Babypuder, Wäsche und einem vergorenen Zitronenparfüm mit dem Nachgeschmack von Kapern.
Im Halbprofil, als sie mit der Drehung des Kopfes einer Werbung für Schwangerschaftsberatung folgt, deren Diskretion durch das Gegenlicht hinter den anonymen Silhouetten der beiden Frauen auf dem Foto versinnbildlicht wird, erkenne ich das sympathische, übertrieben sommersprossige Rundgesicht einer noch fast jungen Frau. Eine Augenblicksaufnahme, in die die Erinnerung sofort großzügig hineinzuzeichnen beginnt, mit Rückgriff auf einen Vorrat von Filmgesichtern, Strandgesichtern, Schulklassengesichtern, Gesichtern, die ein Meer um sich haben oder den Keuchhusten kleiner Kinder oder die Kühle von Kellern mit Gartenmöbeln im Sommer. Das Gesicht dieser Frau ist aber gleichzeitig von der befremdlichen Lustigkeit unverbrauchbarer Gemüter, die über eine Bagatelle Tränen lachen, immer den geradesten Weg gehen und auf dem Höhepunkt der Empörung die Vollstreckung der Höchststrafe ankündigen: »Dazu sage ich nichts!« Sie rauchen nicht, schreien in der Liebe wie Tragödinnen und fallen danach in Kindersprache, überraschen durch plötzliche Anfälle von Schwermut und scharfe Beobachtungen. Sie kommen gerade mitten aus der Liebe, heben den Kopf und sagen dann etwas wie: »Das Kind bezahlt die Lust der Eltern mit dem Leben. Ich meine, damit, dass es leben muss.« Durch dieses Leben rollte die Treppe.
Im Neuwestend steigen vier Araber zu. Die Mutter nimmt den Jungen mit dem Down-Syndrom nun noch ein bisschen fester in den Arm. Der aber folgt der Musik, die aus seinem Kopfhörer dringt, dem Rumoren und Grollen, das, von Schlagwerkern begleitet, schreitet wie ein Trauerzug. Der Junge merkt erst auf, als ein Mann, kaum hat er sich erhoben, eine leere Wasserflasche durch den Waggon pfeffert. Auf seinen Platz setzt sich ein Intellektueller in Sandalen. Das Mädchen mit dem kranken Augenausdruck lächelt, solange es spricht. Hört sie auf zu telefonieren, ist in dem Gesicht kein Lächeln mehr zu finden, in keiner Ecke dieses Gesichts. Dann fällt es wieder in sich zusammen.
Kaiserdamm. Alle im Waggon sind jetzt achtzehn, spielen mit ihren Fingern, tragen Ohrringe, duften. Sophie-Charlotte-Platz, Kaugummi? Der mit dem Afro-Look mosert: »Mann ey, zu nichts zu gebrauchen«, »du nervst«. Eine Gestrenge mit pädagogischem Aroma setzt sich erzieherisch daneben, angezogen wie zur Fuchsjagd. Bismarckstraße ist eh scheißegal. In der gegenüberstehenden Bahn hebt eine Frau den Pullover, für wen? Deutsche Oper, ein hochbeiniges Mädchen mit lila Strumpfhose, Leinensack mit Sylt-Aufdruck, stürzt herein, schmeißt sich hin, sagt: »Chemie ist mehr wert als Bio. Ich nehm auf keinen Fall Mathe.« Ernst-Reuter-Platz. Eine Behutsame
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