Momo
noch weit.
Die ganze Ruine war grell erleuchtet von den Scheinwerfern vieler eleganter grauer Autos, die sie von allen Seiten umstellt hatten. Dutzende von grauen Herren eilten die grasbewachsenen Stufen hinauf und hinunter und durchsuchten jeden Schlupfwinkel.
Schließlich entdeckten sie auch das Loch in der Mauer, hinter dem Momos Zimmer lag.
Einige von ihnen kletterten hinein und guckten unter das Bett und sogar in den gemauerten Ofen.
Dann kamen sie wieder heraus, klopften sich die feinen grauen Anzüge ab und zuckten die Schultern. „Der Vogel ist ausgeflogen“, sagte einer.
„Es ist empörend“, meinte ein anderer, „daß Kinder in der Nacht herumstrolchen, anstatt ordentlich in ihren Betten zu liegen.“
„Das gefällt mir ganz und gar nicht“, erklärte ein dritter.
„Das sieht fast so aus, als hätte sie jemand rechtzeitig gewarnt.“
„Undenkbar!“ sagte der erste. „Der Betreffende hätte ja schon früher als wir von unserem Beschluß wissen müssen!“
Die grauen Herren blickten einander alarmiert an.
„Falls sie tatsächlich von dem Betreffenden gewarnt worden ist“, gab der dritte zu bedenken, „dann ist sie sicherlich nicht mehr hier in der Gegend. Wir würden gerade durch weiteres Suchen hier nur unnütz Zeit verlieren.“
„Haben Sie einen besseren Vorschlag?“
„Nach meiner Ansicht müßten wir sofort die Zentrale benachrichtigen, damit diese den Befehl zum Großeinsatz gibt.“
„Die Zentrale wird uns als erstes fragen, ob wir die Umgebung auch tatsächlich gründlich abgesucht haben, und das mit Recht.“
„Also gut“, sagte der erste graue Herr, „durchsuchen wir zunächst die Umgebung. Aber wenn das Mädchen inzwischen von dem Betreffenden Hilfe bekommen hat, dann machen wir damit einen großen Fehler.“
„Lächerlich!“ fuhr ihn der andere böse an. „In diesem Fall kann die Zentrale immer noch Großeinsatz anordnen. Dann werden sich sämtliche verfügbaren Agenten an der Jagd beteiligen. Das Kind hat nicht die geringste Chance, uns zu entkommen. Und nun – an die Arbeit, meine Herren! Sie wissen, was auf dem Spiel steht.“ In dieser Nacht wunderten sich viele Leute in der Gegend, warum der Lärm der vorbeirasenden Autos überhaupt nicht mehr verstummen wollte. Selbst die kleinsten Seitenstraßen und holperigsten Kieswege waren bis zum Morgengrauen von einem Getöse erfüllt wie sonst nur die großen Hauptverkehrsstraßen.
Man konnte kein Auge zutun. – Zur nämlichen Stunde wanderte die kleine Momo, von der Schildkröte geführt, langsam durch die große Stadt, die jetzt niemals mehr schlief, selbst zu dieser späten Nachtzeit nicht.
Rastlos jagten und hasteten die Menschen in riesigen Massen durcheinander, schoben sich gegenseitig ungeduldig beiseite, rempelten sich an, oder trotteten hintereinander her in endlosen Kolonnen. Auf den Fahrbahnen drängten sich die Autos, dazwischen dröhnten riesige Omnibusse, die ständig überfüllt waren. An den Häuserfassaden flammten die Leuchtreklamen auf, übergossen das Gewühl mit ihrem bunten Licht und erloschen wieder.
Momo, die alles das noch nie gesehen hatte, ging wie im Traum und mit großen Augen immer hinter der Schildkröte her. Sie überquerten weite Plätze und hellerleuchtete Straßen, die Autos rasten hinter ihnen und vor ihnen vorüber, Passanten umdrängten sie, aber niemand beachtete das Kind mit der Schildkröte.
Die beiden mußten auch niemals jemand ausweichen, wurden niemals angestoßen, kein Auto mußte ihretwegen bremsen. Es war, als wisse die Schildkröte mit völliger Sicherheit vorher, wo in welchem Augenblick gerade kein Auto fahren, kein Fußgänger gehen würde. So mußten sie sich niemals eilen und niemals anhalten, um zu warten. Und Momo begann sich zu wundern, wie man so langsam gehen und doch so schnell vorankommen konnte.
Als Beppo Straßenkehrer endlich beim alten Amphitheater ankam, entdeckte er, noch ehe er abgestiegen war, im schwachen Schein seiner Fahrradlampe die vielen Reifenspuren rund um die Ruine. Er ließ sein Rad ins Gras fallen und lief zu dem Loch in der Mauer. „Momo!“ raunte er zuerst und dann noch einmal lauter: „Momo!“ Keine Antwort.
Beppo schluckte, seine Kehle war trocken. Er kletterte durch das Loch in den stockdunklen Raum hinunter, stolperte und verstauchte sich den Fuß. Mit zitternden Fingern entzündete er ein Streichholz und schaute sich um. Das Tischchen und die beiden Stühle aus Kistenholz waren umgestoßen, die Decken und die Matratze waren aus dem Bett
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