Momo
sich auf diesen Rand zu.“
„Was?“ schrie die Zentrale, „Verfolgung aufnehmen! Ihr müßt sie fassen, um jeden Preis! Habt ihr verstanden?“
„Verstanden!“ kam die aschengraue Antwort.
Zuerst dachte Momo, es sei die Morgendämmerung; aber dieses seltsame Licht war so plötzlich gekommen, genaugenommen in dem Augenblick, als sie in diese Straße eingebogen waren. Hier war es nicht mehr Nacht, aber es war auch nicht Tag. Und diese Dämmerung glich weder der des Morgens noch der des Abends. Es war ein Licht, das die Konturen aller Dinge unnatürlich scharf und klar hervorhob und doch von nirgendwo herzukommen schien – oder vielmehr von überallher zugleich. Denn die langen schwarzen Schatten, die sogar die kleinsten Steinchen auf der Straße warfen, liefen in ganz verschiedene Richtungen, als würde jener Baum dort von links, dieses Haus von rechts und das Denkmal da drüben von vorn beleuchtet.
Übrigens sah das Denkmal selbst auch recht sonderbar aus. Auf einem großen würfelförmigen Sockel aus schwarzem Stein stand ein riesengroßes weißes Ei. Das war alles.
Aber auch die Häuser waren anders als alle, die Momo je gesehen hatte. Sie waren von einem fast blendenden Weiß. Hinter den Fenstern lagen schwarze Schatten, so daß man nicht sehen konnte, ob dort überhaupt jemand wohnte. Aber irgendwie hatte Momo das Gefühl, daß diese Häuser gar nicht gebaut waren, um bewohnt zu werden, sondern um einem anderen, geheimnisvollen Zweck zu dienen. Diese Straßen waren vollkommen leer, nicht nur von Menschen, sondern auch von Hunden, Vögeln und Autos. Alles schien reglos und wie in Glas eingeschlossen. Nicht der kleinste Windhauch regte sich. Momo wunderte sich, wie schnell sie hier vorankamen, obgleich die Schildkröte eher noch langsamer ging als bisher.
Außerhalb dieses seltsamen Stadtteils, dort wo Nacht war, jagten drei elegante Autos mit leuchtenden Scheinwerfern die zerlöcherte Straße entlang. In jedem saßen mehrere graue Herren. Einer, der im vordersten Wagen saß, hatte Momo entdeckt, als sie in die Straße mit den weißen Häusern eingebogen war, wo das seltsame Licht anfing. Als sie jedoch diese Ecke erreicht hatten, geschah etwas höchst Unbegreifliches. Die Autos kamen plötzlich nicht mehr vom Fleck. Die Fahrer traten aufs Gas, die Räder jaulten, aber die Autos liefen am Ort, etwa so, als ob sie auf einem fahrenden Band stünden, das mit gleicher Geschwindigkeit in entgegengesetzter Richtung lief. Und je mehr sie beschleunigten, desto weniger kamen sie vorwärts. Als die grauen Herren das merkten, sprangen sie fluchend aus den Wagen und versuchten, Momo, die sie weit in der Ferne gerade noch erkennen konnten, zu Fuß einzuholen. Sie rannten mit verzerrten Gesichtern, und als sie endlich erschöpft innehalten mußten, waren sie im ganzen gerade zehn Meter weit vorangekommen. Und das Mädchen Momo war irgendwo in der Ferne zwischen den schneeweißen Häusern verschwunden. „Aus!“ sagte einer der Herren, „aus und vorbei! Jetzt kriegen wir sie nicht mehr.“
„Ich begreife nicht“, meinte ein anderer, „warum wir nicht mehr vom Fleck gekommen sind.“
„Ich auch nicht“, antwortete der erste, „die Frage ist nur, ob man uns das als mildernde Umstände für unser Versagen zugute halten wird.“
„Sie meinen, man wird uns vor Gericht stellen?“
„Na, belobigen wird man uns ganz bestimmt nicht.“ Alle beteiligten Herren ließen die Köpfe hängen und setzten sich auf Kühler und Stoßstangen ihrer Autos. Sie hatten es nicht mehr eilig.
Schon weit, weit fort, irgendwo im Gewirr der leeren, schneeweißen Straßen und Plätze, ging Momo hinter der Schildkröte her. Und gerade, weil sie so langsam gingen, war es, als glitte die Straße unter ihnen dahin, als flögen die Gebäude vorüber. Wiederum bog die Schildkröte um eine Ecke, Momo folgte ihr – und blieb überrascht stehen. Diese Straße bot einen völlig anderen Anblick als alle vorigen. Es war eigentlich mehr ein enges Gäßchen. Die Häuser, die sich links und rechts aneinanderdrängten, sahen aus wie lauter zierliche Paläste aus Glas, voller Türmchen, Erkerchen und Terrassen, die undenkliche Zeiten auf dem Meeresgrund gestanden hatten und nun plötzlich aufgestiegen waren, von Tang und Algen überhangen und mit Muscheln und Korallen bewachsen. Und das Ganze spielte sanft in allen Farben wie Perlmutter.
Dieses Gäßchen lief auf ein einzelnes Haus zu, das seinen Abschluß bildete und quer zu den übrigen stand. In seiner
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