Mona Lisa Overdrive
Titel
genau die Bewegung, die Gibson ein ums andere Mal an der Schnittstelle von Mensch und
Maschine beschreibt.
Nach seinen großen Erfolgen auf dem Gebiet der Kurzgeschichte war die Spannung hinsichtlich der Frage, ob er deren Zauber in eine größere und herausfordernde Länge würde übertragen können, naturgemäß hoch. Der inzwischen leider verstorbene Terry Carr, der lange Jahre über einer der bedeutendsten und besten SF-Herausgeber Amerikas war, forderte Gibson 1983
aufgrund seiner zuvor erschienenen Kurzgeschichten auf, für seine Ace Special-Reihe einen Roman zu verfassen. Obwohl Gibson den Eindruck hatte, dafür noch nicht reif zu sein, machte er sich an die Arbeit und meldete Carr das langsame Vorankommen mit einem Buch, das er im Gespräch mit diesem einmal als Mischung zwischen Roadrunner-Comic und Philip-K.-Dick—
Realitätsentwurf bezeichnete, mit anderen Worten: nichts ist, was es zu sein scheint, aber es bewegt sich uneinholbar schnell. Das drückt sich in dem Buch, das unter dem Titel 1HXURPDQFHU
erschien und binnen kurzem den Locus Award und Hugo Gernsback Award der SF-Leser, den
Nebula Award der SF-Macher und den Philip K. Dick Memorial Award für den besten
Originaltaschenbuchroman, mithin also alle einschlägigen SF-Preise auf einmal gewann, auch deutlich aus. Von den Eröffnungsworten des Romans an — »Der Himmel über dem Hafen hatte die Farbe eines Fernsehers, der auf einen toten Kanal eingestellt ist« — ist die Quelle all dieses weißen Lichts und dieser weißen Hitze, die hier gebündelt wie noch nie auftrat, offensichtlich: dichte, kaleidoskopartige, rasch voranschreitende und ausgeflippte High Tech-Szenarien, die mit halluzinatorischer Lebhaftigkeit das verzweifelte, hysterische Lebensgefühl in den modernen Großstadtlandschaften beschreiben. Was diesen Roman zu einem so herausragenden Debüt machte, waren nicht die Anleihen bei anderen
Autoren, zu denen außerhalb der Science Fiction auch Dashiell Hammett und Robert Stone
gezählt werden müssen, sondern die Originalität dieser Vision, die eine Synthese aus Poesie, Popkultur und Technologie herstellt. Und obwohl das von Kritikern und Rezensenten häufig übersehen wird, ist 1HXURPDQFHU ein Werk, das bei aller Faszination für den Glitter und Zauber technischer Spielereien tief in der Verfaßtheit der menschlichen Realität wurzelt. Gibsons Präsentation der Oberflächengespinste unseres elektronischen Zeitaltes zeichnet das Gefühl der sensorischen Überbelastung nach — die Erfahrung von Menschen, die mit CDs, Wahrsagern, Sektierern, Designerdrogen, David Bowie und den Sex Pistols, Hip-Hop, Scratch und Acid
House, Videospielen und Computern aufgewachsen sind und deren Horizont sich vornehmlich
nach optischen Maßgaben ausrichtet. Ihre Eckpfeiler sind stilisierte Oberflächlichkeiten im Strudel reiner Strukturen. In Gibsons Roman finden sich diese Strukturen in einem Metaphernmeer gefangen wieder, in einem ständigen Oszillieren begriffen, das zwischen
Konkretheit und Abstraktion keinen Haltepunkt mehr findet. Aus dieser Bipolarität, dieser Suche im Leerraum zwischen Körper und Psyche, Materie und Information resultiert die Frage nach der heutigen Bedeutung des Menschseins, die Gibsons Texte trägt. Er stellt diese Frage aus einer Perspektive, die bisher noch nie eingenommen wurde, aus Angst, von der aufreißenden Leere verschlungen, zur Kopie ohne Original, zu einem abstrakten kybernetisch-mechanischen Gebilde zu werden. Die Angst, deren Ursprung, da er nicht faßbar ist, verkannt wird, verhindert auch, daß der Autor selbst den Hintergrund seines Schaffens theoretisch zu fassen vermag.
Gibsons Schwierigkeiten bei der Niederschrift des Romans, die er freilich in einer Flucht nach vorn als Mittel zum Zweck einsetzte, geben davon Zeugnis. ª1HXURPDQFHU wird von meiner furchtbaren Angst angetrieben, daß ich die Aufmerksamkeit des Lesers verlieren könnte«, sagte er in einem 1986 gehaltenen Interview mit Larry McCaffery. »Deshalb versucht es wie eine Fahrt auf einer Berg-und-Tal-Bahn zu sein, auf jeder Seite einen Widerhaken zu haben. Als mir einmal klar war, daß ich mit etwas herüberkommen mußte, sah ich mir die Geschichten an, die ich bis dahin geschrieben hatte, und versuchte herauszufinden, was für mich zuvor funktioniert hatte. Ich beschloß zu versuchen, diese Dinge zusammenzuführen. Während ich das Buch schrieb, war ich überzeugt, daß ich mich bis in alle Ewigkeit schämen würde, wenn es
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