Mona Lisa Overdrive
futuristischen Schauplatz spielt, als Einstiegserfahrung mit einem Kulturschock aufwarten sollte. Wo man ständig durch das
Andersartige in Atem gehalten wird.« Politische Absage, Verkehrung, Schock — dahinter steht der bereits erwähnte Widerhaken, den Gibson zum formprägenden Element wählt, das darauf abzielt, immer dasjenige zu präsentieren, was am wenigsten wahrscheinlich ist, das Gegenteil des Substantiellen, das Unausgedrückte und Unausdrückbare, jenes ungeschehene Ereignis, das nur in Gestalt von Traumbildern und Phantasmen von sich Kenntnis gibt. Dieses ungeschehene Ereignis — das man auch den hohlen Kern von Ereignissen nennen kann — ist es, um das herum sich so beständig wie vergeblich Handlung vollzieht. Bei Erscheinen des Romans war man trotz des großen Erfolges beim Publikum über dessen Qualität geteilter Ansicht. »Man könnte geltend machen«, schreibt der englische Literaturkritiker David Pringle, »daß 1HXURPDQFHU unter seiner bravourösen Oberfläche ein ziemlich konventionelles Stück populärer Dichtung ist. Es hat einen starken Plot, Elemente des Krimis und eine Menge Gewalt von rauhen Burschen. Aber es besitzt auch mehr als nur einen Hauch Poesie. Die bildliche Darstellung von zerfallenden Stadtlandschaften, übersät mit elektronischen Apparaten, die verrückt spielen, ist außerordentlich lebendig und einschlägig.« Tatsächlich weist der Roman eine Anzahl von Schwächen auf, eine gewisse Effekthascherei und einen Grad an Komplexität, der hin und wieder die Handlung aus dem Ruder laufen läßt, aber das sind Folgen jenes automatischen Schreibverfahrens, dem sich Gibson verpflichtet fühlt. Was von Pringle kritisiert wird, ist das Fehlen einer gewissen Tiefe des Ausdrucks, hinter der man so etwas wie eine Aussage, eine kritische Stellungnahme des Autors vermuten könnte. Aber erinnern wir uns: Die Ereignisse in Gibsons Texten zeichnen sich gerade dadurch aus, keine Bedeutung zu tragen, die über die bloße Inszenierung ihres Vorgangs hinausginge. Gibson JLEW seinen Geschichten keine Interpretation. »Ich glaube«, sagt er dazu in einem Gespräch mit Colin Greenland, »daß eine Menge Kritiker meinen Sinn für Realismus, für die NRPPHU]LHOOHQ 2EHUIOlFKHQ der Leben meiner Charaktere als einen tiefen und aufrichtigen Versuch mißverstanden haben, die Technik zu begreifen. Ich bin ebenso fasziniert — nun, eigentlich sogar etwas mehr — von den Motiven, die jemanden dazu bringen, rauszugehen und sich eine Calvin Klein-Jeans zu kaufen, wie ich es von der Arbeitsweise eines chirurgischen Lasers bin. Was nicht heißen soll, daß ich der Schönheit und Wichtigkeit (oder Poesie) eines chirurgischen Lasers gegenüber blind bin...« Worauf Gibson hier so ironisch abzielt, ist klar: Er benutzt den Wiedererkennungseffekt beim Leser, um das Fehlen von jeglichen Inhalten und Werten punkmäßig zum Äußersten zu treiben und sie damit in ihr Gegenteil zu verkehren. Der Wiedererkennungseffekt stößt damit strenggenommen immer ins Leere, in den Hohlraum, der sich zwischen Technikliebe und nostalgischer Romantik auftut in einer Zeit, wo der Computer in einer kybernetisch erfahrenen Welt neben neuen Bequemlichkeiten auch immer neue Abhängigkeiten schafft.
Spannung gewinnt Gibsons Stil jedoch nicht nur aus der Montage zeitgenössischer
Kulturobjekte, seien es Jeans oder Laser, sondern vor allem durch Handlungsverläufe, die, wie Pringle bemerkt, viel dem Kriminalroman zu verdanken haben, genauer gesagt, dem >Roman Noir< der dreißiger Jahre, dessen vielleicht größter Vertreter Cornell Woolrich war und der — nach einer Renaissance in den Fünfzigern — gerade wieder zu neuen Ehren kommt. Ihn
kennzeichnet die Konzentration auf von jeder Poesie gereinigte Strukturen, eine Art Schachbrett-Mentalität, nach der sich alles zweipolig scheidet, in Gut und Böse, Mann und Frau, Sein und Nichtsein, eine Polarität, die bis zum Einsatz der Lichtverhältnisse geht. Schwarze Serie-Verfilmungen zeigen, wie der zum Selbstzweck erstarrte korrupte Polizeiapparat einer verdorbenen Gesellschaft — der seine Entsprechung im Cyberpunk in Form der allgegenwärtigen Technologie findet — alles ausleuchtet, aber das Dunkel, in dem ein Philip Marlowe agieren muß, bleibt erhalten. Die Verarbeitung dieser Aspekte durch Gibson wird noch deutlicher in seinem zweiten Roman, &RXQW =HUR dessen Titel der Spitzname einer Figur (»Graf Null«) ist und gleichzeitig frei übersetzt >Zähle bis Null< bedeutet, wobei
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