Mona Lisa Overdrive
wieder um. Und wir hatten uns gerade in Norfolk, Virgina, angesiedelt und ein Haus gekauft und lebten dort wohl seit einem Jahr schon, als er recht plötzlich bei einem Unfall starb.« Das Haus wurde verkauft, und Gibson zog im Alter von acht Jahren mit seiner Mutter in das Städtchen in South Western Virginia zurück, aus dem die Familien beider Elternteile stammen, »einem Städtchen quasi in einem Ray Bradbury-Text mit starkem William Faulkner-Einschlag, ein ganz schön rückständiges Loch also.« Er verlebte dort diese typische Kindheit, die SF-Autoren zu eigen sein scheint: der Junge, der mit dreizehn anfängt, das Zeug zu verschlingen, sich davon begeistern läßt, bis er fünfzehn ist, um es dann aus der Hand zu legen. Obwohl er mit Anfang zwanzig voll Verachtung auf diese Phase zurückblickte, glaubt er heute, daß sie sehr wichtig für ihn war, weil Sience Fiction in dem konservativen Städtchen, in dem er aufwuchs, fast die einzige Quelle einer Art Gegenkultur darstellte. Als er fünfzehn war, beschloß seine Mutter, die wegen seiner schlechten Zensuren an der örtlichen High School schier verzweifelte, ihn in ein Internat nach Tucson, Arizona, zu schicken. Dort, auf einer Art Ranch-Schule, blieb er, bis er achtzehn wurde.
Als dann auch seine Mutter starb, verließ er 1966/67 die Privatschule, in der er ein einigermaßen bürgerliches Leben geführt hatte, und ging in einem »Sommer der Liebe«, wie er sagt, nach Toronto in Kanada, um nicht für den Kriegsdienst in Vietnam eingezogen zu werden. Die Welt, in der er dort lebte, bezeichnete er als viel wilder als alles, was die Science Fiction bot.
Der Tod beider Eltern hatte natürlich seine Spuren hinterlassen. »Ich glaube, wenn man so was erlebt«, sagt er, »bekommt man einen Sinn dafür, wie vergänglich und instabil die Realität ist.«
Fiktionen, wie die SF sie bereithält, können an solche Radikalitäten nicht heranreichen, und so hielt er auch nur wenigen ihrer Autoren wie J. G. Ballard und Samuel R. Delany die Treue. Zu seinen besonderen Favoriten wurden jedoch Thomas Pynchon und William Burroughs, auf deren Lektüre die meisten sogenannten Cyberpunk-Autoren als Schlüsselerlebnisse verweisen.
Einige Jahre lang ließ Gibson sich einfach treiben. Er stand der Hippie-Bewegung der
Endsechziger nahe, mit entsprechender Haartracht und Kleidung, einschießlich der Philosophie, die Welt würde sich in zehn Jahren dermaßen verändern, daß es zwecklos wäre, sich darauf vorbereiten zu wollen. »Und«, wie er sagt, »ich hatte in gewisser Hinsicht auch recht, obwohl die Unterschiede JDQ] DQGHUV ausgefallen sind, als wir uns das eingebildet haben.«
Nachdem er sich an einer Universität im Fachbereich englische Sprache und Literatur
eingeschrieben hatte, bekam er ein Studentenvisum und besuchte mehrmals die Vereinigten
Staaten, wo es ihm aber nicht mehr gefiel. Der eigenen Kultur entfremdet, kehrte er nach Toronto zurück, wo er längere Zeit buchstäblich nicht mehr machte, als nötig war, um die Miete zu bezahlen. Gemeinsam mit seiner späteren Frau Deborah Jean Thompson, mit der er inzwischen einen Sohn und eine Tochter hat, zog er 1971, nachdem sie ihren Bachelor of Arts in Englisch gemacht hatte, nach Vancouver. Dort studierte er an der University of British Columbia weiter, freilich ohne festes berufliches Ziel. Im wesentlichen ging es ihm darum, durch kleinere Studienbeihilfen und Stipendien, die man bei einem entsprechenden Schnitt von der Uni und der Provinzregierung erhielt, einen Unterhalt zu bestreiten, der es ihm ermöglichte, davon zu leben.
Noch im selben Jahr gingen sie nach Europa und reisten viel, hauptsächlich in Südeuropa, wo es billig war, hielten sich mehrere Monate auf Ibiza auf, verbrachten aber auch ein Wochenende in Istanbul, das Gibson wegen seiner exotischen Lebensweise nachhaltig beeindruckte. Nach ihrer Rückkehr 1972 heirateten sie. Seine Frau studierte weiter, machte den Magister in Linguistik und begann, an der Uni Englisch als Zweitsprache zu geben, was sie ungefähr acht bis zehn Jahre tat.
In dieser Zeit ernährte sie die Familie. Gibson selbst begann nach vier oder fünf Jahren auf der Uni parallel zu seiner Arbeit als Schriftsteller als Assistent in einem Kurs für Filmgeschichte tätig zu werden. Aus dieser Zeit stammt seine besondere Vorliebe für das Werk von Luis Bunuel und Eric Rohmer, Kurosawa und Tarkowski. Gezielte Inspirationen für seine eigenen Texte verdanken sich auch dem Fassbinder-Film
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