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Mona Lisa Overdrive

Mona Lisa Overdrive

Titel: Mona Lisa Overdrive Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Gibson
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sich allmählich zusammenfügten, wenn sie zu stieren anfing. Ihre Mutter im Ueno Park, Gesicht fragil in der Septembersonne.
    »Die Kraniche, Kumi! Schau, die Kraniche!« Und Kumiko schaute über den Shinobazu-Teich
    und sah nichts, keine Spur von Kranichen, nur ein paar hopsende schwarze Tupfer, sicher
    Krähen. Das Wasser war spiegelglatt und bleigrau, und blasse Hologramme flimmerten
    verschwommen über einer fernen Budenzeile, wo's alles fürs Bogenschießen gab. Aber Kumiko sah die Kraniche später oft im Traum; Origami*, eckige Gebilde, aus neongrellen Flächen gefaltet, bunte, starre Gleit-vögel in der Mondlandschaft des mütterlichen Wahnsinns Die Erinnerung an den Vater mit der offenen schwarzen Robe, dem eintätowierten Drachenreigen auf der Brust, den zusammengesackten Vater hinter der riesigen Ebenholzfläche seines Schreibtisches mit den glänzenden Augen ohne Tiefe wie die Augen einer bemalten Puppe.
    »Deine Mutter ist tot. Verstehst du?« Und ringsum flächige Düsternis in seinem Arbeitszimmer, eckige Dunkelheit. Seine Hand gleitet vor in den Lichtkegel der Lampe und deutet zittrig auf sie, wobei der Robenärmel zurückrutscht und den Blick freigibt auf eine goldene Rolex und weitere Drachen mit wogenden Mähnen, die kräftig und dunkel eingestochen sind rings ums Handgelenk und deuten. Auf sie deuten. »Verstehst du?« Aber sie antwortete nicht, sondern lief davon, lief hinunter zu einem Versteck, der engen Kabine der kleinsten Reinigungs-maschine. Da tickte es die ganze Nacht und wurde sie alle paar Minuten von pink aufblitzenden Laserbündeln abgetastet, bis ihr Vater sie fand, der nach Whisky und Dunhill-Zigaretten stank und sie auf ihr Zimmer im dritten Stock der Wohnung trug.
    Die Erinnerung an die Wochen danach, trübe Tage, meist in Gesellschaft des einen oder anderen Sekretärs, vorsichtigen Männern im schwarzen Anzug mit automatischem Lächeln und straff gewickeltem Regenschirm. Einer davon, der jüngste und unvorsichtigste, führte ihr im Gedränge eines Ginza-Trottoirs im Schatten der Hattori-Uhr eine improvisierte Kendo-Demonstration**
    vor, wobei er im Zickzack gekonnt durch erschrockene Verkäuferinnen und entsetzte Touristen wirbelte und der schwarze Regenschirm, ohne Schaden anzurichten, die vorgeschriebenen, althergebrachten Schwünge dieser Kunst vollführte. Und Kumiko lächelte, setzte das eigene Lächeln auf und durchbrach die Totenmaske, wofür ihr
    *Origami: jap. Kunst des Papierfaltens. — $QQL G hEHUV
    **Kendo: jap. Kunst des Stockfechtens. — $QP G hEHUV
    Schuldgefühl augenblicklich tiefer und stechender an jener Stelle des Herzens bohrte, wo sie sich ihrer Schmach, ihrer
    Wertlosigkeit bewußt war. Meistens führten die Sekretäre sie jedoch zum Shopping von einem großen Kaufhaus ins nächste und gingen mit ihr in Dutzenden von Shinjuku-Boutiquen ein und aus, die von einem Michelin-Führer aus blauem Plastik empfohlen wurden, der ein steifes Touristen-Japanisch sprach. Sie kaufte nur potthäßliches Zeug, häßliches und sündhaft teures Zeug, und die Sekretäre schritten, Hochglanztüten in der starken Hand, unerschütterlich neben ihr einher. Nachmittäglich wurden die Tüten nach der Ankunft in der väterlichen Wohnung in Reih und Glied in ihrem Schlafzimmer aufgestellt, wo sie ungeöffnet und unberührt stehenblieben, bis die Zimmermädchen sie entfernten.
    Und in der siebenten Woche — am Vorabend ihres drei-zehnten Geburtstags — wurde
    arrangiert, Kumiko nach London zu verfrachten.
    »Du wirst Gast im Haus meines .REXQ sein«, sagte ihr Vater.
    »Aber ich will nicht«, meinte sie und zeigte ihm das Lächeln der Mutter.
    »Du mußt aber«, sagte er und wandte sich ab. »Es gibt Ärger«, sagte er zum abgedunkelten
    Arbeitszimmer. »In London bist du außer Gefahr.«
    »Und wann komme ich zurück?«
    Aber ihr Vater gab keine Antwort. Sie verneigte sich und ging, nach wie vor das Mutterlächeln im Gesicht, aus dem Arbeitszimmer.
    Der Geist erwachte bei Kumikos Berührung, als sie gerade Heathrow anflogen. Die
    einundfünfzigste Biochip-Generation von Mass-Neotek zauberte eine verschwommene Gestalt in den Sitz neben ihr, einen Jungen aus einem vergilbten Jagdmotiv-Druck mit brauner Reithose und -stiefeln, der die Beine lässig übereinanderschlug. »Hallochen«, sagte der Geist.
    Kumiko blinzelte, öffnete die Hand. Der Junge flimmerte und war weg. Sie betrachtete das
    glatte, kleine Gerät in der Hand und schloß langsam die Finger.
    »Hallo noch mal«, sagte

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