Mona Lisa Overdrive
Seins, die Körperhaftigkeit des Menschen, notwendige Voraussetzung für Identität ist. Auch Gibson ist dem ausgewichen, sich in dieser Feedback-Schleife zu verfangen. Nach ersten schreiberischen Anfängen, die klar und unmißverständlich die Strukturen zeigten, in deren aufklaffenden Zwischenräumen sich das Individuum verliert, wurde das Fehlen einer vermittelnden Instanz zwisehen Hardware und Software mit eigenen Mitteln überbrückt. Im Zuge von Gibsons wachsender schriftstellerischer Erfahrung wurde dieser Abgrund mit Phantasmen gefüllt, jenen bildhaften Ersatzvorstellungen, die immer dann auftauchen, wenn das Entsetzen vor dem Anblick dessen, was sie verdecken, zu groß wird, wenn sich über den Sog durch das herbeigesehnte Nichts die Drohung des Identitätsverlustes schiebt.
Davon zeugt auch das Konzept des neuen Romans, der für Ende 1989 in Vorbereitung ist.
Gemeinsam mit Bruce Sterling hat Gibson nach einer Möglichkeit gesucht, darzustellen, wie es mit den Computern weitergehen mag, und das bedingte, daß sie zu den Wurzeln zurückgingen.
Herausgekommen ist 7KH 'LIIHUHQFH (QJLQH ein historischer Alternativweltroman, der im
England des viktorianischen Zeitalters angesiedelt ist. Im gedanklichen Mittelpunkt steht die historische Figur des Charles Babbage (1792— 1871), ein Mathematiker, der an der Entwicklung großer Rechenanlagen zur Erstellung von Funktionstabellen arbeitete und bereits damals eine programmgesteuerte Rechenmaschine entwarf; ihm wird unterstellt, er habe diese auf der Grundlage von Dampfkraft tatsächlich gebaut, so daß die industrielle Revolution Englands von Anfang an kybernetisch geprägt war; das Phänomen >Amerika< bleibt somit aus, und England und Frankreich beherrschen auf unabsehbare Zeit die Welt. »Es ist eine ganz andere Arbeitsweise«, schwärmt Gibson, »weil es sich um einen historischen Roman handelt, so daß wir nur Bestimmtes ändern können, und wir müssen sogar die Geschichte hereinnehmen, um sie ändern zu können.« Zweifellos ist es eine Abwechslung zu Gibsons bisheriger Cyberspace—
Arbeit, zeigt aber gleichzeitig, daß die Flucht vor der reinen Struktur des substanzlosen Raums zur Hinwendung an feststehende Zusammenhänge geführt hat, die es nur noch zu modifizieren gilt, aber nicht mehr bloßzulegen und aufzulösen. Sich nicht zu verlieren, bildet den Hintergrund für eine solche Bewegung. Das wird auch mit ein Grund für Gibsons Aussage sein, wonach es für ihn ein wahrer Alptraum wäre, in fünf Jahren Cyberspace 10 zu schreiben; zu diesem Kosmos wird es also keine Fortsetzung mehr geben. An seine Stelle sind verzweigte Projekte getreten, die Einzelaspekte von Gibsons bisherigen Interessensgebieten vertiefen. Nachdem er bereits im vergangenen Jahr das Drehbuch für $OOHQ +O abgeschlossen hat, sitzt er derzeit gemeinsam mit John Shirley an einer Drehbuchfassung für »New Rose Hotel«. Im Februar 1988 machte er für das japanische 3HQWKRXVH eine Serie von Reiseberichten über Tokio. Bei dieser Gelegenheit besuchte er Japan das erste Mal, obwohl sich die Figur des Samurais, die allerdings fester Bestandteil der westlichen Pop-Kultur ist, in Gestalt Mollys durch alle drei Titel der Neuromancer-Trilogie zieht. All dies zeigt deutlich, daß Gibson sich auf das >ernsthafte< Schreiben zurückgezogen und damit einen Teil seines spontanen Ausdrucks verloren hat. Bleibt abzuwarten, was seine nächsten Arbeiten zu leisten vermögen. Es läßt hoffen, daß Gibsons Vorstellung von dem, was Science Fiction leisten sollte, ungebrochen ist. »Ich glaube«, sagt er,
»wir leben in einer Zeit, die uns überwältigt und unverständlich ist, und ich glaube, die wichtigste Funktion von mir und der SF, die ich schreibe, ist, die Gegenwart verständlicher zu machen — und nicht versuchen zu wollen, die Zukunft vorauszusagen. Das wäre hoffnungslos.«
Immerhin machen seine bisherigen Erzählungen und Romane möglich, was man auf den ersten
Blick als unwahrscheinlich bezeichnen würde: mehr über die eigene Zeit zu erfahren, bis sie einem seltsamer erscheint als alles, was in Vergangenheit und Zukunft je existiert haben könnte.
&RS\ULJKW © 2989 E\ 0LFKDHO 1DJLWOD
DEUTSCHE BIBLIOGRAFIE
5RPDQH
NEUROMANCER (1984). Deutsche Ausgabe: 1HXURPDQFHU Heyne Science Fiction & Fantasy
06/4400, München 1987, übersetzt von Reinhard Heinz; mit einem Nachwort von Norman
Spinrad.
COUNT ZERO (1986). Deutsche Ausgabe: %LRFKLSV Heyne Science Fiction & Fantasy 06/4529, München 1988,
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