Mona Lisa Overdrive
Freeside-Torus. Pioniere im hohen Orbit. Continuity hat ein herrliches Video ... Angeblich hat sie ihren Vater umgebracht. Sie ist der letzte Sproß.
Vor Jahren ist das Geld ausgegangen. Sie hat alles verkauft, ließ ihre Bleibe von der Spitze der Spindel abtrennen und in einen neuen Orbit schleppen ...«
Sie saß kerzengerade auf der Couch, drückte die Knie zusammen, verschränkte die Finger
darüber. Schweiß tröpfelte aus den Achseln.
»Kennst du die Geschichte nicht?«
»Nein«, sagte sie.
»Das allein ist schon interessant, beweist es doch, wie geschickt sie sich vom öffentlichen Leben zurückziehen konnten. Sie ließen es sich etwas kosten, nicht in die Schlagzeilen zu geraten. Die Mutter war eine Tessier, der Vater ein Ashpool. Sie bauten Freeside, als es noch nichts Vergleichbares gab. Wurden unerhört reich dabei. Kamen wohl sehr dicht an Josef Virek heran, als Ashpool starb. Und natürlich waren sie mittlerweile unerhört eigen geworden, klonten ihre Kinder en gros ...«
»Klingt ja ... fürchterlich. Und du hast versucht, hast wirklich versucht, sie zu finden?«
»Nun, ich habe Erkundigungen eingezogen. Continuity hatte mir dieses Becker-Video beschafft, und natürlich ist ihr Orbit eingetragen, aber es bringt nichts, wenn man vorbei schaut, ohne eingeladen zu sein, nicht wahr? Und dann hat Hilton mich angepiepst, daß ich zurückkommen und wieder an die Arbeit muß ... Fehlt dir was?«
»Nein, ich ... denke, ich zieh mich um jetzt, zieh was Wärmeres an.«
Als nach dem Essen der Kaffee serviert wurde, entschuldigte sie sich und wünschte gute Nacht.
Porphyre folgte ihr zum Fuß der Treppe. Er war beim Essen neben ihr geblieben, als spürte er ihr neues Unbehagen. Nein, dachte sie, kein neues; das alte, das immerwährende, das schon immer gewesen ist. All das, was die Droge abgeblockt hatte.
»Missy, paß auf«, sagte er so leise, daß die andern es nicht hören konnten.
»Alles okay mit mir«, sagte sie. »Die vielen Leute. Hab mich noch nicht dran gewöhnt.«
Den Schimmer verglühender Kohlen im elegant geformten, irgendwie unmenschlich wirkenden
Schädel, stand er da und blickte zu ihr auf, bis sie sich umwandte und hinaufging.
Eine Stunde später hörte sie den Helikopter, der sie alle abholte.
»Haus«, sagte sie, »ich schau mir das Video von Continuity jetzt an.«
Als sich der wandgroße Bildschirm herabsenkte, öffnete sie die Schlafzimmertür und horchte oben an der Treppe kurz ins leere Haus hinein. Brandung, Brausen des Geschirrspülers, Rütteln der Fenster zur Terrasse im Wind.
Sie wandte sich wieder dem Bildschirm zu und schauderte, als sie dort als unsauberes Standbild-Porträt das Gesicht sah mit den geschwungenen, fiedrigen Brauen über den dunklen Augen, hohen, feinen Wangenknochen und einem breiten, entschlossenen Mund. Das Bild wurde ständig vergrößert, ging über in die Dunkelheit eines Auges, schwarzes Bild, weißer Punkt, der anschwoll, sich streckte zur spitz zulaufenden Spindel von Freeside. Vorspann auf deutsch.
»Hans Becker«, begann das Haus, das aus dem Filmdienst des Net-Archivs zitierte, »ist ein österreichischer Videokünstler, dessen Markenzeichen das obsessive Abfragen streng begrenzter Bereiche visueller Information ist. Er geht mit Mitteln vor, die von der klassischen Montage bis zu Techniken reichen, die der Industriespionage entlehnt sind, der Tiefsee-Forschung und Kino-Archäologie. +LHU EHJLQQW $QWDUWLND seine Untersuchung des Bildmaterials über die Familie Tessier-Ashpool, stellt derzeit den Höhepunkt seines Schaffens dar. Der pathologisch medienscheue Industrieclan, der von der völligen Abgeschiedenheit seines Orbitalen Domizils aus operierte, war eine bemerkenswerte Herausforderung.«
Das Weiß der Spindel erfüllte den Bildschirm, als der Vorspann abgerollt war. Ein Bild schob sich in die Mitte, Schnappschuß einer jungen Dame in weiten schwarzen Kleidern; Hintergrund unbestimmbar. MARIE-FRANCE TESSIER, MAROKKO.
Das war nicht das Gesicht am Anfang, das erinnerungsträchtige, schien aber dennoch Ansätze zu zeigen, als läge es verpuppt darunter.
Der Soundtrack webte ein atonales Gespinst zum atmosphärischen Rauschen und zu den
unverständlichen Stimmen, als das Bild der MarieFrance abgelöst wurde vom strengen
Schwarzweiß-Porträt eines jungen Mannes mit gestärktem Stehkragen. Es war ein schönes
Gesicht mit feinen Proportionen, aber irgendwie sehr hart, und in den Augen lag unendliche Langeweile. JOHN HARNASS ASHPOOL,
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