Mond der Unsterblichkeit
Sie bereit?“, fragte der Pathologe mit nüchternem Tonfall, und ergriff einen Tuchzipfel.
Aidan schloss für einen Moment die Augen, aber wahrscheinlich konnte man sich gar nicht für den Anblick eines getöteten Elternteils wappnen.
„Neben Ihnen steht ein Stuhl, falls Ihnen beim Anblick übel wird.“
Aidan wollte es jetzt einfach nur schnell hinter sich bringen.
„Können wir?“ Ungeduld schwang in der Stimme des Mediziners mit.
Aidan nickte. Er schwor sich, den A n blick zu ertragen.
Der Pathologe zog das Tuch vom Gesicht seines Vaters. Aidan zuckte zusa m men. Bei Gott, er hatte sich alles Mögliche ausgemalt, aber das hier übertraf all seine Befürchtungen. Er suchte vergeblich in der bleichen, durch Ve r letzungen entstellten Fratze, die vertrauten Gesichtszüge. Die linke Gesichtshälfte war ze r fetzt und legte den Oberkiefer frei. Sein weißes Haar stand bizarr vom Kopf, als hätte er einen Stromschlag erlitten. Die rechte Gesichtshälfte glich einem au f gedunsenen Kürbis. Eine tief klaffende Wunde erstreckte sich vom Ohr bis zur Schulter. Nicht ein einziger Tropfen Blut war zu sehen, noch unter der transparent erscheinenden Haut erkennbar. Die Augen lagen tief in ihren Hö h len. Es schien, als wäre jegliche Körperflüssigkeit sorgsam ausgespült und abg e waschen worden.
Ungläubig und voller Entsetzen sah er auf den leblosen Körper, der sein Vater gewesen war. Er fühlte sich wie betäubt, bar jeden Gefühls. Sein Magen stülpte sich um, sodass er glaubte, sich tatsächlich übergeben zu müssen. Dann schwankte er und war froh, den Stuhl in seinen Kniekehlen zu spüren. Er sac k te darauf nieder und stöhnte. Ambers Worte hallten in ihm nach: Es ist noch nicht vorbei. Das ist erst der A n fang von Revenants blutigem Feldzug.
„Und, ist er es?“
Die Frage holte Aidan in die Realität z u rück. Er nickte. Der Pathologe schlug das Tuch wieder zurück.
„Hoffentlich kriegen sie bald die Bestie, die Ihren Vater so zug e richtet hat, und knallen sie ab. Die anderen Leichen sehen noch schlimmer aus.“ Mit einem Kopfnicken deutete der Mediziner auf die Tür, die in den Nebenraum führte. „Liegen da drin. Die reinste Horrorshow. Dem einen wurden Gliedmaßen und sogar der gesamte Kehlkopf herausgeri s sen.“
Fast war es mit Aidans Beherrschung vorbei. Hätte er im gleichen Moment Blut gesehen, wäre er ohnmächtig geworden. Er konnte kein Blut sehen, solange er denken konnte. Eine Schwäche, über die er nicht gern sprach.
„Kann ich jetzt gehen?“
„Ja, Sie müssen das nur noch zu Protokoll geben. Vorne. Na, Sie wissen schon.“ Der Pathologe deutete mit dem Arm zum Hof.
Als Aidan den Leichenraum verließ, hörte er hinter sich den Path o logen, wie er die Liege pfeifend zurückschob, als ha n dele es sich um einen Einkaufswagen im Supe r markt.
Er eilte zum Ausgang. Frische Luft, und zwar sofort. Das Blut rauschte in se i nen Ohren. Schließlich erreichte er den Ausgang und riss die Tür auf. Tief atm e te er durch. Die kühle Luft tat gut. Al l mählich beruhigte sich auch sein Magen. Aidan zwickte sich in den Arm, um sich zu ve r gewissern, dass das kein Albtraum war. Sein Hirn schien wie lee r gefegt.
Jetzt wollte er nur noch zurück nach Gealach Castle, zu Amber, wollte sie in seinen Armen spüren, und alles andere vergessen. Seine Besuche bei Samuel und dem Arzt waren sinnlos geworden. Doch zuerst musste er seine Aussage zu Pr o tokoll g e ben.
Eine Stunde später erreichte er Gealach Castle.
Während der Fahrt von Inverness ließen sich die Bilder aus der Pathologie nicht aus seinem Hirn verdrängen. Seine Hände zitterten, als er das Lenkrad u m klammerte. Er musste zugeben, für seinen Vater keine große Liebe empfun den zu haben. Dennoch hatte niemand einen solchen Tod verdient.
27.
A mber erwartete Aidan voller Ungeduld auf dem Parkplatz. Eine gefühlte Ewi g keit war sie rastlos umhergelaufen. Aidans Miene war blass und ve r steinert, als er aus dem Wagen stieg, und ihr entgegen kam. Er wirkte verstört. Er schien in Gedanken weit entfernt zu sein. Sie griff nach se i ner Hand, die eiskalt war. Er blieb stehen, und sie schmiegte sich an seine Brust. Sie wagte nicht, ihn auf das Erlebte anzusprechen, weil sie fühlte, dass er Zeit brauchte, um sich zu sammeln. Was zählte, war ihm nah zu sein, ihm Trost zu spenden, wie er es auch bei ihr getan hatte. Eine Weile verharrten sie in der innigen Umarmung, bis er sie sanft von sich schob.
„Lass uns
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