Mond-Elfe
CHAOS
Cheiron ging am Rand des Berges Sauseschnell spazieren. Er fühlte sich unbehaglich. Die Nachricht, die Chex überbracht hatte, war reichlich verwirrend. Und sie betraf nur seine persönliche Lage. Die politische Lage war fast genauso schlecht. Denn als er die Neuigkeit erfuhr, wußte er sofort, daß es sich um kein gewöhnliches Verbrechen handelte: Che war nicht zufällig entführt worden. Nein, das trug die Handschrift von Kobolden, was darauf hindeutete, daß der Krieg zwischen den Ungeheuern des Landes und den Ungeheuern der Luft kurz vor einem erneuten Ausbruch stand.
Vor Jahrhunderten, ja vor Jahrtausenden hatte der Streit zwischen Kobolden und Harpyien angefangen, weil die männlichen Harpyien die Beine der Koboldfrauen attraktiv fanden. Bevor er beigelegt war, waren die Harpyienmänner beinahe schon verschwunden und hatte ihre Frauen, schmerzlich aus der Fassung gebracht, zurückgelassen. Und die männlichen Kobolde waren ebenso gemein und häßlich, wie ihre Frauen hübsch und nett waren. Diese Kriege hatten die Verbündeten vom Land und aus der Luft miteinbezogen, und sie hatten zum Niedergang der Zivilisation in Xanth beigetragen.
Heute bemühten sich die Zentauren und sogar die Menschen um Wiederherstellung der Normen von Xanth; sowohl Harpyien als auch Kobolde waren nur noch selten anzutreffen, wenigstens auf dem Lande. Aber die alten Richtlinien blieben erhalten, und außerdem gab es noch alte Bündnisse, die ihre Gültigkeit nie verloren hatten. An dieser Stelle kam das politische Element ins Spiel: Wenn die Kobolde Che als Geisel genommen hatten, um von den Ungeheuern der Luft einen gewissen Vorteil zu erzwingen, dann müßte Cheiron mit ihnen auf dieser Basis verhandeln. Aber er hatte nicht die Absicht, so etwas zu tun.
Es war noch Nacht, und der Morgen begann erst gerade eben zu dämmern, doch Cheiron ruhte nicht. Chex schlief dagegen ruhig in der Gewißheit, daß er, Cheiron, wissen würde, was zu tun sei. Er hielt es nicht für nötig, ihr seine persönlichen Zweifel mitzuteilen. Aber vielleicht war die Lage ja nicht so schlecht, wie sie aussah. Das wollte er erst herausfinden, bevor er zur Tat schritt.
Er peitschte zunächst seinen Körper mit dem Schweif und sprang vom Rand. Mit kraftvollen Flügelschlägen flog er zum Lager von Hardy Harpyie. Gloha , Hardys Koboldtochter, besuchte zufällig gerade die Harpyien; sie war es, die Cheiron sehen wollte. Die Romanze zwischen Hardy und der schönen Gloria Kobold hatte den Krieg beinahe von neuem ausbrechen lassen. Allein die Entdeckung, daß Kobolde und Harpyien zusammen magische Talente besaßen, hatte diese Krise entspannt. Aber möglicherweise hegten die Kobolde noch Groll und hatten deshalb den Sprößling der Verbindung zwischen Geschöpfen von Land und Luft gefangen genommen. Bei ihren guten Beziehungen zu Kobolden wußte Gloha möglicherweise davon.
Er erreichte den Hain der Harpyien. »Worauf bis’n du aus, Ungeheuer?« kreischte eine von ihnen keifend. Sie war aus ihrem Schlaf aufgeschreckt.
»Ich komme, Gloha zu besuchen, Ungeheuer«, entgegnete Cheiron und benutzte dieselbe Höflichkeitsanrede, mit der sie ihn begrüßt hatte. Sie waren alle Ungeheuer und stolz darauf. Die Harpyie setzte sich zurück, sie war zufrieden. In der Regel haßten Harpyien die Kobolde, aber Gloha war anders. Natürlich war auch sie ein Kobold, gleichzeitig aber war sie ein Flügelungeheuer.
Er erreichte Hardys großen Baum. Gloha konnte ihre Klauen nicht so um einen Ast klammern wie eine Harpyie, deshalb hatte Hardy ihr ein eigenes hübsches Nest gebaut, komplett mit einem Dach zum Schutz vor dem Wetter. »Gloha!« rief er, als er neben dem Nest schwebte.
Einen Augenblick später öffnete sich die Strohtür und ein Kopf lugte verschlafen hervor. »Was ist los?«
»Hier ist Cheiron. Ich muß mit dir sprechen.«
»Ja, natürlich. Ich fliege eben runter.« Sie war zu höflich, um darauf hinzuweisen, daß die Morgendämmerung noch nicht einmal richtig eingesetzt hatte – das war die schrecklichste Zeit, zu der man ein Mädchen aus dem Schlaf wecken konnte.
Sie traf auf den Ast hinaus und zog ihr Gewand an: eine liebliche kleine Kobolddame, mit vogelgleichen Flügeln, und gerade mal fünfzehn Jahre alt. Bald würde sie sich entscheiden müssen, an was für einen Mann sie sich binden wollte. Leider gab es keine anderen fliegenden Kobolde.
Sie flogen auf den Boden, wo Cheiron sicher stehen konnte. »Che wurde von Kobolden entführt«, sagte er
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