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Mondberge - Ein Afrika-Thriller

Mondberge - Ein Afrika-Thriller

Titel: Mondberge - Ein Afrika-Thriller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Martin Meyer , Andreas Klotz
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nur zwei Meter von seinem Bruder entfernt. Zwei Meter, die über Leben und Tod entschieden. Ein zähes Knirschen, ein Knacken in der Kälte. Jens verlor das Gleichgewicht, taumelte, rutschte ab, fiel in das eiskalte Wasser. Auch Tom brach durch das Eis, versank erst mit einem Bein, dann auch mit dem anderen. Er spürte den Sog des Flusses. Das Wasser schlug kurz über seinem Kopf zusammen. Die Kälte lähmte seinen Körper. Im letzten Moment erwischte er mit klammen Fingern die messerscharfen Kanten des Eises, zog sich daran hoch, obwohl das höllisch schmerzte, kämpfte sich durch das immer wieder einbrechende Eis in Richtung Ufer. Dann sah er sich panisch um.
    Er entdeckte Jens, seine Hände, seinen Kopf, seine Augen. Er schien zu schreien, doch Tom hörte keinen Ton aus dem Mund seines Bruders. Die Eisschollen, die Toms Rettungsweg markierten, wurden von der Strömung des Flusses unter die Eisfläche geschoben. Dahinter strampelte Jens um sein Leben. Tom sprang auf, rannte ein paar Meter am Ufer entlang, bog wieder auf das Eis ab, schob sich vorsichtig tastend auf Jens zu. Erst verschwand der blonde Schopf seines Bruders, dann eine Hand, danach die andere. Jens wurde unter das Eis gezogen. Der gewaltigen Kraft der Strömung hatte sein Bruder nichts entgegenzusetzen.
    Das Eis war sonderbar klar. Tom konnte beinahe wie durch Glas das Wasser des Flusses sehen. Der Anblick war wunderschön und bestialisch zugleich. Denn unter dem Eis sah er Jens. Mit dem Gesicht nach oben trieb er unter der Eisfläche auf Tom zu, war unter ihm, bewegte den Mund, aus dem Luftblasen quollen, wurde weitergetragen. Tom schrie. Er folgte seinem Bruder, der immer weiter den Fluss hinabtrieb. Er versuchte verzweifelt, das Eis zu durchbrechen. Doch was eine Minute vorher von allein geschehen war, gelang ihm an dieser Stelle nicht mehr.
    Die nasse, schwere Kleidung zog Jens nach unten. Die Strömung nahm zu. Er trieb schneller weiter. Tom begann zu laufen. Er wünschte sich, selbst erneut einzubrechen, bei seinem Bruder zu sein, ihn rauszuholen aus der eisigen Hölle. Er rutschte, schlitterte, fiel, raffte sich wieder auf. Eine niedrige Brücke versperrte ihm den Weg. Er musste an der Böschung hinaufklettern, rannte auf die andere Seite, glitt auf der spiegelglatten Brücke einmal, zweimal aus, rutschte das Ufer auf der anderen Seite der Brücke wieder hinunter. Er rannte und rannte. Doch er fand ihn nicht mehr. Jens war weg. Tom schrie, doch kein Ton verließ seinen Mund.
    Später – er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war – saß er an der Böschung des Flusses. Ein Mann stand neben ihm, sprach ihn an, zog ihn hoch, verfrachtete ihn in ein Auto, drehte die Heizung bis zum Anschlag auf, raste über die weiße Straße, sprach ununterbrochen mit ihm. Sie kamen zu einem Haus, das aussah wie die meisten Häuser der Gegend. Aus Holz gebaut, gelb verschalt, weiße Umrandungen. Zwei Scheunen daneben, rot mit weißen Kanten. Die Tür öffnete sich, der Mann zerrte an ihm, zog ihn, trug ihn fast zum Haus.
    Ein Sofa. Eine Frau. Sie zogen ihm die nassen Kleider vom Leib, wickelten ihn in Decken, flößten ihm heißen Tee ein. Der Mann telefonierte. Die Frau redete ohne Unterlass mit ihm. Sobald er die Augen schloss, sich in die Dunkelheit retten wollte, rüttelten sie ihn, hielten ihn wach, taten alles, damit er nicht wegdämmerte. Tom spürte nichts. Gar nichts. Er wusste, dass er die Schuld trug. Er hatte seinen Bruder in den Tod getrieben. Er hatte Jens so lange geärgert, bis er auf das Eis gesprungen war. Mit seinen steif gefrorenen Händen umklammerte er den Fotoapparat seines Bruders. Er gab ihn nicht wieder her.
    Später kamen andere Menschen. Ein Arzt. Er untersuchte Tom, stellte ihm viele Fragen. Doch Tom verstand ihn nicht, reagierte nicht, sagte nichts. Er war leer. Nicht sein Körper war erfroren, sein Herz war zu Eis geworden. Es schlug, es pumpte Blut in alle Körperteile. Aber Tom spürte nichts.
    Seine Eltern waren plötzlich da. Seine Mutter weinte. Sie streichelte ihn, flüsterte ihm seinen Kosenamen zu, fragte nach Jens. Sein Vater wirkte alt. Er stand verbittert schweigend neben dem Sofa und sagte keinen Ton. Tom hörte ihn, in seinem Kopf. Deutlich und klar. Du hast versagt. Seine Blicke durchbohrten ihn. Was hast du mit Jens gemacht?
    Irgendwann kam die Polizei. Der junge Polizist schüttelte den Kopf. Nein, wir haben ihn nicht gefunden. Die Strömung ... Er fragte Tom immer wieder, woran er sich erinnerte. Was war mit

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