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Mondberge - Ein Afrika-Thriller

Mondberge - Ein Afrika-Thriller

Titel: Mondberge - Ein Afrika-Thriller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Martin Meyer , Andreas Klotz
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Ruhe finden.« Mbusa schaute Tom an. Dann bemerkte er die Linse in dessen Hand. »Was ist das?«, fragte er.
    Tom erklärte es ihm. »Den Film habe ich zuhause in einer Schublade. Ich habe ihn nie entwickelt. Ich habe mich nicht getraut.«
    Mbusa streckte die Hand nach der Linse aus. Tom gab sie ihm zögernd. Mbusa drehte und wendete sie hin und her, blickte hindurch und prüfte die stumpfen Kanten mit dem Daumen.
    »Wenn man von der einen Seite hindurchsieht, dann wirkt die Welt größer, von der anderen Seite aus betrachtet wirkt sie kleiner. Die Welt sieht immer anders aus, je nachdem, von welcher Seite aus du sie betrachtest. Diese Linse hier ist allerdings so zerkratzt, dass die Welt auf der anderen Seite nicht mehr klar erkennbar ist.«
    Tom sah seinen Freund mit offenem Mund an, dann nahm er die Linse wieder an sich. Mbusa hatte Recht: Die Linse war blind. Die Welt dahinter war nur noch schemenhaft erkennbar. Tom schüttelte erstaunt den Kopf. Dieser Gegenstand war für ihn jahrelang nur ein Talisman gewesen, eine Erinnerung an seinen Bruder. Und jetzt stellte er fest, dass sie so viel mehr war.
    Mbusa ging in die Mitte der Lichtung. Dort hob er mit Hilfe seines Speers eine flache Mulde aus. Dabei murmelte er Worte, die Tom nicht verstand. Nach einer Weile stand Mbusa auf, streckte die Hand nach der Linse aus, die Tom ihm gab, und zückte ein scharfes Messer.
    »Ich werde dir jetzt in die Hand ritzen und der Erde dein Blut übergeben. Danach wirst du diese Linse, die einmal deinem Bruder gehört hat, hier an dieser Stelle begraben. Wir werden das Ritual einer Beerdigung vollziehen.«
    Tom nickte. Dann hielt er Mbusa seine Hand hin. Er betrachtete den Himmel. Der Mond war fast vollständig im Schatten der Erde verschwunden. Er spürte die kalte Klinge auf seiner Haut, den Schmerz, als das Metall die Haut durchschnitt, die Wärme seines eigenen Blutes, das in die Mulde tropfte. Genau in diesem Moment fegte ein eisiger Wind über die Lichtung. Tom zuckte zusammen.
    »Bleib ruhig«, sagte Mbusa schnell.
    Die Temperatur sank merklich ab. Tom fror. Doch Mbusa hörte nicht auf. Während er ununterbrochen in sanftem Tonfall Worte sprach, die Tom fremd waren, legte er die blinde Linse in die Mulde. Als das Glas die blutgetränkte Erde berührte, zog Nebel in dicken Schwaden aus dem Wald heran und über ihnen ertönte ein Heulen, das Tom das Blut in den Adern gefrieren ließ. Die Balindi hatten sich in den Schutz der Bäume zurückgezogen, blieben aber in der Nähe. Tom spürte die Anwesenheit seines Bruders, ohne ihn zu sehen. Die Baumwipfel wurden von Wind gepeitscht, während der Nebel immer undurchdringlicher wurde.
    »Kathelhuli und Kithasamba, zwei unserer höchsten Geister sind hier«, flüsterte Mbusa fast unhörbar.
    »Ihre Namen dürfen niemals laut ausgesprochen werden. Sie kämpfen um die Seele deines Bruders. Lass uns hoffen, dass Kithasamba gewinnt.«
    Tom sah eine Gestalt auf sich zurasen und duckte sich im letzten Moment weg. Was auch immer das gewesen war, es flößte ihm bittere Furcht ein. Auch Mbusa zog den Kopf ein. Die beiden verharrten gebeugt und häuften so lange Erde in die ausgehobene Mulde und über die darin liegende Linse, bis ein kleiner Grabhügel entstanden war. Mbusa suchte die Umgebung nach runden Steinen ab, die er um den kleinen Hügel legte.
    Und mit einem Mal erstarb das Heulen, der Wind ließ nach und der Nebel löste sich auf. Die Umgebung war stockfinster. Am Himmel waren nur die Sterne zu sehen. Dann bemerkte Tom, wie der rote Mond ganz langsam wieder aus dem Erdschatten herauswanderte.
    Er spürte noch immer Jens in seiner Nähe. Aber zum ersten Mal war es ein durchweg angenehmes Gefühl. Er war da und er wachte über ihn. Aus tiefster Seele wurde Tom in diesem Moment von dem Gefühl der Liebe durchdrungen. Von einer Liebe, die sich nicht auf einen bestimmten Menschen beschränkte, sondern allumfassend war. Tom saß auf dem feuchtem Boden, mitten in Ostafrika, umgeben von einer traumhaften Landschaft, die vor ihm nur sehr wenige Menschen zu Gesicht bekommen hatten. Unten im Tal wartete eine Frau auf ihn, die in den letzten Tagen mit jeder Minute an Bedeutung gewonnen hatte.
    Langsam stand Tom auf. Der Erdschatten gab immer mehr von der Mondsichel preis.

64
    Außerhalb des Tals, 20. Juni
    Der Marsch durch den tiefen Schnee erschöpfte Hans bis ans Ende seiner Kräfte. Aber die Rebellen waren zu keiner Pause bereit. Sie stapften immer weiter, rastlos, atemlos, nur das eine Ziel

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