Mondberge - Ein Afrika-Thriller
Jens geschehen? Tom wollte nichts erzählen, doch der Polizist blieb unerbittlich, ließ nicht locker. Also erzählte Tom, dass Jens zuerst auf dem Eis war. Dass Jens ihn, Tom, herausgefordert hatte. Weil er ein Angsthase sei. Tom sagte, er sei seinem Bruder gefolgt. Er sagte, Jens sei eingebrochen und er habe versucht, ihn zu retten.
Sie glaubten ihm. Alle. Nur sein Vater nicht. Das sah Tom ihm an. In jeder Sekunde in all den folgenden Jahren. Bis heute.
Sie warteten. Einen Tag, zwei Tage. Eine Woche. Dann fuhren sie zurück nach Deutschland. Um weiter zu warten. Eine Woche, zwei Wochen. Die Monate zogen sich zäh in die Länge. Doch die Nachricht kam nicht. Sie kam nicht mit den ersten Sonnentagen. Sie kam nicht zu Ostern. Sie kam nicht im Sommer. Toms Vater rief jede Woche in Schweden an. Die Antwort war immer dieselbe: Nein, wir haben den Körper nicht gefunden, aber wir suchen weiter . Den Film aus dem Fotoapparat hatte Tom nie entwickelt.
Tom erschrak, als Mbusa ihn an der Schulter fasste. Er hatte die Augen die ganze Zeit über offen gehabt, hatte wahrgenommen, wie Jens’ Gestalt immer näher auf ihn zugegangen war. Jetzt war er nur noch zwei Meter von Tom entfernt.
»Tom?«, sagte Mbusa vorsichtig. »Geht es dir gut?«
Langsam wandte Tom ihm den Kopf zu. Er nickte andeutungsweise.
»Trink das hier.«
Mbusa hielt ihm eine dampfende Schale hin. Eine Mischung unbekannter Kräuteraromen stieg Tom in die Nase. Schon der Geruch ließ seine Lebensgeister zurückkehren. Er trank den heißen Tee in kleinen Schlucken und spürte sofort, wie die Betäubung in seinem Kopf nach und nach verschwand. In seinen Händen hielt er einen Gegenstand. Es war die Linse des alten Fotoapparates von Jens, das Einzige, das nach all den Jahren noch übrig war. Er hatte die Linse am Rand durchbohrt und trug sie mit einem Lederband um den Hals. Niemals legte er es ab. Nun war das Band zerrissen.
»Was ist passiert?«, fragte er Mbusa.
»Du warst eine Weile ganz weit fort. Aber deine Augen standen offen.«
»Nur eine Weile?«, fragte Tom verwundert. »Mir kommt es vor, als seien es Stunden gewesen.«
Tom berichtete in stockenden Worten, was er gesehen und gefühlt hatte. Mbusa hörte ihm aufmerksam zu. Und auch die Gestalt von Jens schien jedes Wort in sich aufzusaugen.
»Ich habe meine Version der Geschichte so oft erzählt, bis ich sie selber geglaubt habe. Aber ich habe gelogen. Zwanzig Jahre lang«, brachte Tom mühsam hervor.
»Du hast nicht gelogen. Du hast die Erinnerung verloren und wusstest es nicht besser.«
»Wenn ich ihn nicht geärgert hätte, dann wäre er nicht auf das Eis gegangen. Dann würde er heute noch leben.«
Mbusa legte Tom eine Hand schwer auf die Schulter.
»Du bist nicht schuld am Tod deines Bruders. Das war ein Unfall. Du hättest dich nicht hinter einer Lüge verstecken müssen. Zwanzig Jahre lang hast du geglaubt, schuldig zu sein, und hast deshalb das Erlebte tief in dir vergraben. Du hast befürchtet, die Wahrheit nicht ertragen zu können. Aber jetzt kennst du sie und kannst dich mit ihr auseinandersetzen.«
»Wenn ich meinen Eltern sage, was wirklich passiert ist ... was wird dann geschehen?«
»Das kann dir niemand beantworten.«
»Sie haben mir immer wieder gesagt, dass ich die Verantwortung für ihn trage. Er war doch jünger als ich.«
»Wie viel?«
»Dreizehn Monate.«
»Dann wart ihr im Grunde gleich alt. Dein Bruder konnte für sich selbst die Verantwortung übernehmen.«
»Aber ich habe die Verantwortung ja gern auf mich genommen, weil ich mich ihm dann überlegen gefühlt habe.« Tom stand auf, raufte sich die Haare. Dann fiel sein Blick auf die Lichtung. Die Balindi saßen noch immer am Rand. Aber die Gestalt von Jens war verschwunden, und das Licht hatte sich verändert. Er sah zum Himmel und stutzte: Der Vollmond wanderte in den Schatten der Erde.
»Was ist das?«, fragte Mbusa irritiert.
»Eine Mondfinsternis«, antwortete Tom und erklärte ihm den Vorgang. Mbusas Gesicht legte sich in sorgenvolle Falten.
»Ich weiß nicht, wie die Leute aus meinem Clan darauf reagieren.« Er sah einen Moment lang nachdenklich aus. »Lass uns zu Ende bringen, was wir angefangen haben.« Er wandte sich Tom wieder zu. »Dein Bruder wurde nie begraben?«
»Man hat seine Leiche nicht gefunden. Sie ist unter das Eis gezogen worden und vermutlich bis in die Ostsee getrieben.«
»Dein Bruder muss ein rituelles Begräbnis bekommen, dann kann er seine Gestalt wechseln. Erst danach wird er
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