Mondberge - Ein Afrika-Thriller
erstaunt an.
»Mein Vater«, sagte Tom zu ihm. »Aber das ist verrückt. Ich habe einfach nur zu wenig Wasser getrunken.«
Er holte die Wasserflasche aus seinem Rucksack, trank sie mit tiefen Schlucken leer, bevor er sie wieder zurücksteckte und weiterging.
»Erinnere mich bitte daran, dass ich genug trinke«, sagte er zu Peter, der ihn überholt hatte und jetzt in größerem Abstand vor ihm herging. Der Ugander blickte sich kurz um, zuckte dann mit den Schultern und setzte seinen Weg fort.
Einige Minuten später ließen sie das steinige Gelände hinter sich und gelangten in eine Gegend mit alten Bäumen und Strohblumen. Der Boden war sumpfig, und die Wanderer balancierten über quer zum Weg gelegte kurze Baumstämme, die sich wie krumme Leitersprossen mehrere hundert Meter weit durch die Landschaft schlängelten. Jeder Schritt auf dem glitschigen Holz war ein Balanceakt, ein Fehltritt hatte unweigerlich durchnässte Kleidung zur Folge. Immer wieder schien der Weg plötzlich und ohne Vorwarnung im dichten Urwald zu enden. Erst im letzten Moment war eine Biegung des Pfades zu erkennen, hinter der man den Weg doch noch fortsetzen konnte. Die Wanderer wurden durch eine beinahe außerirdisch anmutende Welt geführt. Genau solche Orte waren der Grund, warum Tom sich den Strapazen ein zweites Mal aussetzte. Vor einem Jahr hatte er allerdings nicht diese bedrückende Unruhe gespürt, die er heute in sich trug.
An dem verfallenen Nyamuleju-Camp gingen sie zügig vorbei; die Guides wollten keine Pause einlegen, bis sie das Nachtlager erreicht hatten. Wieder veränderte sich die Landschaft. Über ihnen erhoben sich nun die knorrigen Stämme der Erika-Bäume, die mehr als fünfzehn Meter in den Himmel ragten. An den Spitzen waren sie grün, darunter nur ein majestätischer grauer Stamm, der wie abgestorben aussah. Hunderte, Tausende dieser Erika-Bäume säumten die Hänge. Zum ersten Mal seit Stunden zückte Tom seine Kamera. Dann nahm er die letzte Etappe für diesen Tag in Angriff, die durch die morastigen Erika-Wälder dorthin führte, wo sich die ersten Lobelien in den Himmel reckten.
Tom erreichte an diesem Nachmittag als Erster die John-Matte-Hütte auf fast 3.500 Metern Höhe. Am hinteren Rand des Lagers, durch eine Lücke in der dichten Vegetation hindurch, entdeckte er zwei Berggipfel, die – von Wolken umflossen – aus dem Gebirge herausragten. Sein Träger Gharib erklärte ihm, was das war: das Stanley-Massiv mit der Margherita- und der Alexandra-Spitze.
Die Erschöpfung zwang Tom an diesem Tag dazu, sich früh zurückzuziehen. Ein paar Mal blickte Peter ihn noch auffordernd an, damit er mit ihm redete. Aber Tom wandte den Kopf ab, verzichtete auf das Abendessen und ging auf die Hütte zu, die der Gruppe in dieser Nacht Schutz bieten sollte.
Als er den Eingang erreichte, sah er Hans und Imarika neben der Hütte sitzen. Hans redete ununterbrochen auf den Träger ein, der nickte hin und wieder mit dem Kopf, blieb aber selbst stumm. Tom beobachtete die beiden eine Weile, dann betrat er die Hütte, schlüpfte in seinen Schlafsack und versuchte, zur Ruhe zu kommen. Doch die Bilder des Tages, die Gestalt im Wald geisterten weiter durch seinen Kopf.
20
Im Tal, acht Tage vor der Feier
»Wann werden wir in die Geheimnisse eingeweiht?«, wollte Kambere von seinem Vater wissen, als sie von der Insel zum Festland übersetzten.
»Du wirst heute mit den Männern, die bei der letzten Feier beschnitten wurden, in den Wald gehen. Sie werden dir alles erzählen.«
Kambere nickte.
Er hatte gehofft, seinem Vater schon jetzt etwas mehr zu entlocken. Doch natürlich wusste er im Grunde, dass er erst mit der Beschneidung die Würde erlangte, in die geheimen Riten des Stammes eingeweiht zu werden. Kambere war voller Ungeduld. Er wollte endlich wissen, was jenseits der Berge lag. Viele Geschichten hatten sich die Kinder darüber erzählt, doch Kambere wusste nicht, was er davon glauben sollte. Je näher der Tag heranrückte, je greifbarer er wurde, desto länger schien alles zu dauern.
Am Ufer trafen sie auf die Männer, die hier am Hang lebten. Die Insel war vor einiger Zeit zu klein geworden, sodass die Dorfgemeinschaft die Entscheidung gefällt hatte, alle unverheirateten Männer in der Nähe der großen Plantagen anzusiedeln. Sie waren auf der Insel immer willkommen, doch wohnen konnten sie dort nicht mehr.
Mbusa und Kathya, die beiden jungen Männer, mit denen Kambere in den Wald gehen sollte, empfingen die
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