Mondberge - Ein Afrika-Thriller
Wand.
Der Schrei ertönte erneut. Alle Haare seines Körpers stellten sich auf. War das ein Mensch? Oder ein Tier? Hans hatte von den Ruwenzori-Leoparden erzählt, die seit Jahrzehnten niemand mehr gesehen hatte. Ein drittes Mal erscholl ein Schrei, diesmal viel weiter weg. Dann war es still. Totenstill. Toms Herz raste. Er stand dicht neben Andrea. Ängstlich ergriff sie seine Hand, die er unwillkürlich nach ihr ausgestreckt hatte. Sie war kalt.
»Etwas ist anders.« Tom machte einen Schritt zur Seite und sackte bis zum Knie in den Schlamm, der sofort von oben in den Stiefel eindrang. Andrea packte ihn am Arm. Kai kam ihnen zur Hilfe, ergriff Toms anderen Arm, bevor er auch noch mit dem zweiten Fuß versinken konnte. Gemeinsam zogen sie ihn aus dem Morast.
»Irgendetwas passiert hier«, flüsterte Tom atemlos, als er versuchte, den größten Schmutz aus dem Stiefel herauszubekommen. Ihm war schwindelig.
»Tom!« Andrea schaute ihm geradewegs in die Augen. »Wir gehen jetzt weiter.«
Tom straffte sich, sog die kühle Luft tief in seine Lungen. Als er sich umwandte, sah er Kathrin, die ihn angsterfüllt beobachtete. Sie war so weiß wie der sie umgebende Nebel, ihre Zähne klapperten. Es war das einzige Geräusch, bis hinter ihnen weitere Gestalten auftauchten. Nzanzu und Birgit. Kai gab Kathrin die Hand, zog sie wortlos zu sich heran und ging mit schnellen Schritten weiter.
Nzanzu betrachtete Tom, sagte aber nichts. Das allgegenwärtige Schweigen machte Tom fast noch mehr Angst als die Schreie, für die er keine Erklärung fand.
Gespenstische Schatten. Feuchtigkeit und Kälte drangen durch Hose und Jacke. Tom war schweißgebadet. Er bekam kaum Luft. Schweigend marschierten sie hintereinander den schlammigen Weg entlang. Tom spürte die Anspannung in jeder Pore seines Körpers. Immer wieder meinte er, Gestalten im Nebel zu erkennen. Für einen Moment flammte in ihm der Gedanke auf, wie dumm es gewesen war, genau jetzt diese Reise anzutreten, doch dann wurde ihm schlagartig klar, dass er seinem Ziel näher war als je zuvor. Jetzt musste er die Zähne zusammenbeißen. Dies war nicht der Ort, an dem er Schwäche zeigen durfte. Er hatte die anderen vor sich aus den Augen verloren, wurde immer langsamer.
Schotter knirschte unter seinen Füßen. Der Bewuchs ging zurück, die Kälte war schneidend. Der Weg führte nun gefährlich steil abwärts. Immer wieder musste Tom seine Hände zur Hilfe nehmen, um nicht abzurutschen. Bald waren um ihn herum nur noch Steine, Felsen und Schnee. Er keuchte. Obwohl er Handschuhe angezogen hatte, spürte er seine Fingerspitzen nicht mehr. Ständig rutschte er weg.
Schließlich hatte er das schlimmste Stück hinter sich gebracht. Die ersten höheren Senezien traten wieder in Toms Sichtfeld. Und wieder meinte er neben sich Gestalten zu sehen. Die Schemen verschwommen vor seinen Augen. Auch beim Aufstieg hatte er diese Pflanzen gesehen, erinnerte er sich. Das war also ein gutes Zeichen, bald würden sie aus dieser abweisenden Hölle rauskommen. Stumm standen die gespenstisch verhangenen Stämme an beiden Seiten des Weges. Sie bewegten sich nicht. Sie blickten ihn nur an. Mit weißen Augen im schwarzen Stamm und Ästen, die wie Arme an ihnen herabhingen.
Tom wischte sich den Schweiß von der Stirn. Andrea musste unmittelbar vor ihm sein. Stimmen wisperten in einer Sprache, die er nicht verstand. Er hatte den Eindruck, dass die Sicht sich allmählich verbesserte. In lockerem Abstand reihten sich nun Pflanzen rechts und links auf. Wenn er eine von ihnen passierte, trat bereits die nächste aus dem Nebel hervor. Er blieb stehen, um sie sich genauer anzusehen. Sie waren mit grün-braunen Tarnuniformen umhüllt. Was ging hier vor? Tom ging der Schreck bis ins Mark. Er sah in Augen, menschliche Augen. Eine weiße Zahnreihe entblößte sich. Vor ihm stand ein uniformierter Junge, die Kalaschnikow locker über die Schulter geworfen und grinste. Tom drehte sich um. Auf der anderen Seite des Weges das gleiche Bild. Freundliche, wenn auch etwas hämisch wirkende Augen und ein strahlend weißes Lächeln in einem schwarzen Gesicht. In einer wie betäubten Ruhe ging er weiter. Nach hundert Metern tauchten Menschen vor ihm aus dem Nebel auf, die auf einem kleinen Plateau warteten.
Alle waren da. Die Träger, die sich ängstlich an einen Felsen kauerten; Steve, der nervös auf seiner Unterlippe kaute; Hans, der irritiert von einem zum anderen sah; Michael, der erschöpft auf einem Stein saß;
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