Monde der Finsternis 03 - Mond der Ewigkeit
sind sie noch nicht da gewesen, ich schwöre. Und wenn ich mich nicht irre, sind sie binnen weniger Minuten gewachsen.“
Kevins weitere Worte zogen ungehört an Aidan vorbei. Bildete er sich das ein oder konnte er wirklich das Wachsen der Pflanze hören? Das leise Knistern und das Geräusch platzender Knospen, wenn sich ein neues Blatt entfaltete. Gleichzeitig spürte er ein Ziehen, als wüchse die Pflanze in ihm.
Aidan beobachtete starr, wie die Ranken Zentimeter um Zentimeter des steinernen Mauerwerks eroberten. Der Baum der Finsternis. Jemand war im Begriff, das Tor zur Schattenwelt zu öffnen. Amber hatte es geahnt. Nur ihm war es auf seinen transzendentalen Reisen verborgen geblieben. Er musste hinauf nach Clava Cairn. Am besten sofort. Hatte es diese Prozession von Kuttenträgern etwa tatsächlich geschafft, das Tor zu öffnen? Aidan spürte den Sog der Dunkelheit, das Verlangen, die Ranken zu berühren und einen unbändigen Durst nach Blut. Er schüttelte den Kopf und ignorierte die Bilder, die sich ihm aufdrängten.
„Hey, was geht hier ab? Ich sehe dir an, dass du mehr weißt.“
Kevin richtete den Lichtkegel der Taschenlampe auf Aidans Gesicht. Er hielt zum Schutz eine Hand über die Augen. Einen Moment erwog er, Kevin die Wahrheit zu verschweigen, aber der Junge war zu clever, um ihm das abzukaufen. „Das sind die Ranken des Baumes der Finsternis.“
Kevin riss die Augen weit auf. „Heilige Scheiße! Heißt das etwa, Amber hat recht und jemand hat das Schattentor geöffnet?“
Kevin trat von einem Fuß auf den anderen wie ein Tier, das vor Aufregung mit den Pfoten scharrt. In seinen Augen blitzte eine Mischung aus Neugier und Respekt. Aidan erinnerte sich, was der Junge durchgemacht hatte, der Tod des Vaters, die Gefahren, in denen er geschwebt hatte. Doch er war wie Amber an den Erlebnissen gereift und ging abgeklärter damit um, obwohl er sicher nie den Respekt verloren hatte.
„Vermutlich.“
„Hast du das nicht gefühlt?“, hakte Kevin nach.
Es fiel Aidan schwer, es dem Jungen einzugestehen, dass er zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen war. Jetzt bereute er, dass ihm die Ranken entgangen waren. „Nein“, gab er zu.
„Und jetzt?“ Kevin wirkte wie ein Hund vor dem Rennen. Jeder Muskel in seinem Körper war angespannt, bereit, auf Kommando vorzupreschen. Unter seinem Auge zuckte es.
„Ich werde nach Clava Cairn gehen, um mir Gewissheit zu verschaffen.“ Sofort legte sich Kevins Hand auf seinen Arm. „Ich komme mit.“
Kevins Mut überraschte ihn. Aidan sog scharf die Luft ein. „Ich weiß nicht, was uns da oben erwartet ... Bist du sicher, dass du mitwillst?“
Der Junge straffte die Schultern und nickte. Er war entschlossen.
„Mich haut so schnell nichts um.“
Kevin brachte tatsächlich so schnell nichts aus der Ruhe. In Gefahr hatte er außerdem stets bewiesen, allein zurechtzukommen. Weshalb sollte er ihn also nicht mitnehmen? „Also los, dann komm.“ Aidan klopfte ihm auf die Schulter und bedeutete ihm mit einem Wink, ihm zu folgen. „Die da brauchen wir nicht.“ Aidan tippte auf die Taschenlampe. Kevin wollte protestieren, doch er kam ihm zuvor. „Sie könnte uns verraten. Du musst dich auf meine Augen verlassen.“
Widerwillig stimmte Kevin zu. Es war ihm anzusehen, wie unwohl er sich bei dem Gedanken fühlte, sich auf einen anderen zu verlassen. Aidan wusste, dass Ambers Bruder sich nur als Pilot in ein Flugzeug setzen würde und niemals als Passagier.
„Du bist ein Kontrollfreak, Kevin.“ Gut, dass der Junge in der Dunkelheit nicht sein Schmunzeln sehen konnte.
„Ich liefere mein Leben nicht gern anderen aus.“
Aidan gab ihm einen Klaps auf die Schulter.
Je näher sie Clava Cairn kamen, desto unruhiger wurde Aidan. Er spürte die Kälte der Schattenwelt. Als Mensch hatte er sich das Sterben so vorgestellt, dass er ein Feuerwerk an Farben sah, bevor Dunkelheit seinen Geist umhüllte. Ein langsamer, friedvoller Prozess, voller Hoffnung, geliebte Verstorbene wiederzusehen. Sein Tod war anders verlaufen. Schmerzvoll, elend und einsam. Er sah zu den Baumkronen auf, die im Wind wogten. Ungewöhnliche Stille herrschte, kein Vogelruf, kein Flügelrauschen, als hielte die Welt den Atem an. Der Baum der Finsternis fraß bereits das Licht und jedes Geräusch. Kevin lief schweigend neben ihm her, die Hände tief in den Jackentaschen vergraben.
Aidan spürte unerwartet die Gegenwart eines Wesens mit düsterer Aura und nahm Witterung auf. Es war weder ein
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