Monde
Baedecker. »Großer Gott.« Er trank den Rest Bier und winkte dem Mann mit der Legion-Mütze nach mehr.
Blumen waren keine da, aber beide Gräber waren gut gepflegt. Baedecker verlagerte das Gewicht und nahm die Sonnenbrille ab. Die Grabsteine aus Granit waren identisch, abgesehen von den Inschriften: CHARLES S. BAEDECKER 1893-1956, KATHLEEN E. BAEDECKER 1900-1957. Der Friedhof war ruhig. Er wurde im Norden von hohen Maisfeldern und auf den anderen drei Seiten von Wald abgeschirmt. Im Osten und Westen fielen Schluchten zu unsichtbaren Bächen ab. Baedecker dachte daran, wie er während eines Fronturlaubs seines Vaters im verregneten Frühjahr von 1943 oder ‘ 44 in den bewaldeten Hügeln mit ihm jagen gegangen war. Baedecker hatte die geladene Schrotflinte und die .22er stundenlang herumgeschleppt, sich aber geweigert, auf ein Eichhörnchen zu schießen. Das war während seiner kurzen pazifistischen Phase gewesen. Baedeckers Vater war sichtlich angewidert, hatte aber nichts gesagt, sondern dem Jungen lediglich den fleckigen Leinwandsack aufgebürdet, der halbvoll mit toten Eichhörnchen war.
Baedecker ließ sich auf ein Knie sinken und zupfte Grashalme vom Grabstein seiner Mutter. Dann setzte er die Sonnenbrille wieder auf. Er dachte an den Leichnam, der keine zwei Meter unter der fruchtbaren schwarzen Erde von Illinois lag – die Arme, die ihn gehalten hatten, wenn er nach Raufereien weinend vom Kindergarten nach Hause kam, die Hände, die in Nächten des Schreckens die seinen tätschelten. Damals war er manchmal aufgewacht und wusste nicht, wo oder wer er war, er schrie auf und hörte kurz darauf die leisen Schritte der Hausschuhe seiner Mutter auf dem Flur, spürte die sanfte Berührung ihrer Hände in der grauenerregenden Dunkelheit. Erlösung. Rettung.
Baedecker erhob sich und verließ den Friedhof. Phil Dixon hatte ihn auf dem Weg nach Hause zum Abendessen gerne hier abgesetzt. Baedecker hatte ihm gesagt, er würde die fast zwei Kilometer in den Ort zu Fuß zurückgehen.
Er schob den schwarzen Eisenriegel in die Lasche des Tors und schaute noch einmal zum Friedhof zurück. Insekten summten im Gras. Irgendwo jenseits der Bäume muhte kläglich eine Kuh. Selbst von der Straße aus konnte Baedecker die beiden Rasenrechtecke neben den Gräbern seiner Eltern erkennen, wo Plätze für seine beiden Schwestern und ihn reserviert waren.
Ein Pritschenwagen brauste von dem Hügel im Osten herab und kam in einer Wolke aus Staub und Kies schlitternd vor Baedecker zum Stehen. Ein Mann mit sandfarbenem Haar und vom Wind gerötetem Gesicht beugte sich auf der Fahrerseite heraus. »Sie sind Richard Baedecker, oder?« Ein jüngerer Mann saß neben ihm. An einer Gewehrhalterung hinter den beiden hingen zwei Flinten.
»Ja.«
»Dachte ich mir. Ich hab im Chronicle-Dispatch von Prince ville gelesen, dass Sie kommen. Ich und Galen hier sind auf dem Weg zum Optimists Barbecue in Glen Oak. Aber vorher wollen wir im Lone Tree auf ein paar Gekühlte einkehren. Ich kann kein Auto sehen. Wollen Sie mitfahren?«
»Ja«, sagte Baedecker. Wieder nahm er die Sonnenbrille ab, klappte sie sorgfältig zusammen und steckte sie in die Hemdtasche. »Ja, gerne.«
Laut Baedeckers Fahrer hatte die Lone Tree Tavern einst einen halben Kilometer südwestlich gestanden, unmittelbar nach der Kreuzung von Schotterwegen und Landstraßen. Der einsame Baum, nach dem sie benannt war, eine hohe Eiche, stand noch. Als Peoria County in den Dreißigerjahren unter der Prohibition trocken wurde, hatte das Lone Tree einfach zusammengepackt, war ins Jubilee County umgezogen und hatte die nächsten f ü nfundvierzig Jahre am Waldrand auf der zweiten Anhöhe westlich des Calvary-Friedhofs verbracht. Die Hügel waren steil, die Straße schmal, und Baedecker konnte sich erinnern, dass seine Mutter von mehr als einem Gast berichtet hatte, der zur Kuppe des Friedhofshügels hinaufgerast war, nur um festzustellen, dass ein anderes Auto aus der Gegenrichtung kam. Die Benzinrationierung und die Abwesenheit junger Männer hatten die Zahl der Unfälle während des Krieges etwas gesenkt. Baedeckers Vater war zum Trinken ins Lone Tree gegangen, wenn er Heimaturlaub hatte. Baedecker konnte sich erinnern, wie er ein Nesbitt ’ s Orange in derselben kühlen Dunkelheit getrunken hatte, wo er jetzt einen irischen Whiskey und ein Bier bestellte. Er musterte die rissigen Bodenfliesen, als stünde der kleine Jutesack voller Eichhörnchen immer noch da.
»Sie erinnern sich
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