Mondlaeufer
an Pol vorbei dauerte ewig. Sie stürzte und stürzte, prallte gegen zerklüftete Felsen und verschwand schließlich in den dunklen Tiefen der Schlucht.
Es gab keine Pfeile mehr. Mit tränenblinden Augen blickte Pol zur Felsenburg hinüber und sah, wie eine helle Flamme über den Zinnen aufsprang. Wie eine Fackel wirkte es von hier, ein einzelnes Licht vor dem schattigen Koloss der Burg. Es war eine Fackel mit Armen, die voller Qual vergeblich um sich schlugen, als Lichtläufer-Feuer Menschenfleisch verzehrte. Die Fackel flammte auf, dann sank sie zu Boden und geriet außer Sicht.
Pol fühlte Maarkens Hände auf seinen Schultern und hörte das Schluchzen in seinem Atem. »Pol – alles in Ordnung? Bist du unverletzt? Sag doch was!«
Er sah Maarken mit leerem Blick an. Schweiß und Tränen rannen über das Gesicht seines Vetters, und an seiner Stirn klaffte eine Wunde, um die sich ein Bluterguss bildete. »Ich bin nicht verletzt«, hörte er sich sagen, »aber du.«
»Nur ein Kratzer. Kümmere dich nicht um mich. Wir bleiben erst mal hier, bis du nicht mehr zitterst.« Maarken schlang seinen starken Arm um den Jungen.
»Ich zittere nicht«, sagte Pol und merkte dabei, dass er es doch tat. Er vergrub sein Gesicht an der Schulter seines Cousins.
»Schsch. Sie ist mehr wert als unsere Tränen, Pol, aber das ist alles, was wir ihr jetzt geben können. Auch wenn sie uns dafür ausschimpfen würde.«
»Wenn – wenn sie nicht darauf bestanden hätte, dass ich das Seil losmache …«
»Dann hätten wir auch dich verloren«, sagte Maarken mit belegter Stimme. »Gütige Göttin, der Mut, den diese Frau hatte …«
Nach einer Weile beruhigten sie sich, und Maarkens Umarmung entspannte sich. »Geht’s jetzt?«, fragte er.
Pol nickte. »Ich finde den, der das getan hat, und ich werde ihn töten.«
»Das hat Pandsala schon getan. Du hast das Feuer gesehen. Sie hat mit ihrer Gabe getötet.«
Schreck und wilde Freude, dass der Schütze tot war, kämpften miteinander. Doch stärker als beides war sein Zorn. Pol richtete sich gerade auf. Pandsala hatte voreilig gehandelt, indem sie den Mörder tötete, ehe man ihn befragen konnte.
»Sie wird mir Rede und Antwort stehen«, stellte Pol klar. »Ich bin hier der Prinz, und sie wollten meinen Tod. Falls die losen Ringe nicht genügen sollten, hatte der Bogenschütze den Rest zu besorgen. Warum hat Pandsala nur nicht befohlen, den Mann zu überwältigen und festzunehmen?«
»Ich bin sicher, sie wird eine gute Erklärung dafür haben.«
Maarken winkte den übrigen Kletterern zu, die rasch zum Sims heraufkamen. »Wir schimpfen auf Sie dafür, dass sie uns das Leben gerettet hat. Wärst du lieber tot?«
»Nein. Aber sie brauchte ihn nicht zu töten – vor allem nicht so.«
»Denk dran, wessen Tochter sie ist.«
»Und wessen Sohn ich bin.« Pol holte tief Luft, um sich zu beruhigen. »Hast du die Pfeile gesehen, Maarken? Braun und gelb. Merida.«
»Wer sonst?«
Pandsala war nicht einfach nur wütend. Bei ihrem Vater oder ihrer Schwester Ianthe hätte solcher Zorn weitere Hinrichtungen nach sich gezogen. Sie wollte noch jemanden bestrafen, jemanden, an dem sie diese gewaltige Wut auslassen konnte, die aus Scham und Furcht entsprang. Sie sah, wie der Merida in ihrem Lichtläufer-Feuer zu Asche verbrannte, und nur die Gegenwart des Hoheprinzen hielt sie davon ab, den Anführer der Wache zu rufen und auch ihn zu töten, weil er einen Verräter in die Felsenburg gelassen hatte.
Rohan wandte sich mit unbewegtem Gesicht von den züngelnden, stinkenden Flammen ab. Sein Blick galt der Felswand auf der anderen Seite, wo man Pol und Maarken auf dem Weg zum Gipfel half. Er ging um die verschmorte Leiche herum, stellte sich an die Mauer und legte seine Hände flach auf den kühlen, festen Stein. Unter ihm gähnte die Schlucht, herrlich und todbringend. Der Faolain tobte weiß schäumend durch die Felsen. Wären sie in der Wüste, dann würden jetzt schon die Aasgeier kreisen. Doch sie waren nicht in der Wüste, und man würde Maetas zerschmetterten Körper weit flussabwärts finden, wenn überhaupt. Der Tod im dunklen Wasser passte nicht zu dieser Frau, die hellem Sand und endlosem Himmel entstammte.
Er war sich Pandsalas Gegenwart hinter sich bewusst. Angesichts ihrer Wut wunderte er sich über seine eigene Erstarrung. Er sollte doch eigentlich seinen Zorn hinausbrüllen und Vergeltungsaktionen gegen die Merida fordern, die sich in den Tälern von Cunaxa versteckten. Zwei Mal schon
Weitere Kostenlose Bücher