Mondlaeufer
der Bolzen im Stein steckte. »Jemand hat daran herumgebohrt!«
»Das habe ich mir gedacht.« Sie zögerte und sagte: »Mein Seil ist nämlich auch durchgescheuert.«
»Der Mann über Euch muss …«
»Das glaub’ ich nicht. Dann hätte er sein eigenes Leben riskiert. Pol, macht das Seil los, das uns verbindet.«
Er erkannte, weswegen sie ihn dazu aufforderte. »Nein! Wenn Ihr den Halt verliert, fallt Ihr!«
»Und wenn ich falle, und das Seil ist an Euch und den Ring gebunden, reiße ich Euch mit. Tut, was ich Euch sage.«
»Maeta – ich kann zu Euch hochklettern …«
»Nein!« Bei ihrem heftigen Ausruf veränderte ihr Körper seine Position, und von dem schmalen Vorsprung, auf dem ihr linker Stiefel stand, fielen kleine Steinchen hinab. »Hört mir zu, als Verwandter«, sagte sie leiser. »Das ist kein Zufall. Der Ring, der gerade hinuntergefallen ist, wurde absichtlich gelöst. Ich war ein Trottel, dass ich es nicht gleich bemerkt habe. Es tut mir leid, mein Prinz.«
»Maeta, bleibt einfach, wo Ihr seid. Ich komme hoch zu Euch. Keiner von uns wird fallen …«
»Verdammt noch mal, macht das Seil los! Ich habe gar nicht vor zu fallen! Aber wenn es geschieht, dann könnt Ihr und Maarken mich nicht halten, nicht mit diesem Ring, der auch schon aus dem Felsen kommt! Tut es, Pol! Je länger Ihr braucht, desto länger muss ich bleiben, wo ich bin.«
Er schluckte seinen erneuten Protest hinunter und gehorchte. Maarken, der noch immer unten auf dem Absatz stand, rief hinauf: »Bleibt angeseilt, beide! Ich schlinge das Seil um die Felsen!«
»Maarken, lass sie nicht fallen!«
Doch was sein Vetter jetzt eigentlich tun konnte, war ihm nicht klar. Sein Blick hing an Maeta, und er wünschte, sie würde bald einen sicheren Stand finden. Sie fand einen Vorsprung und dann noch einen, und tastete nach einem Halt, der ihre Muskeln weniger beanspruchen würde.
»Pol, beweg dich nicht.« Maarken war genau unter ihm. »Ich habe das Seil an die Felsen gebunden und alle unter uns in Alarmbereitschaft versetzt. Lass mich vorbei, dann mache ich das andere Ende an Maeta fest.«
Pol presste sich flach an die Felswand, als Maarken unter seinen Beinen entlangstieg und Halt fand, wo keine Grifflöcher in den Stein geschlagen waren. »Sie steht jetzt sicherer«, sagte der Junge und staunte über seine ruhige Stimme, die er nicht wiedererkannte. »Was soll ich machen?«
»Klettere zurück zu dem Felsvorsprung! Halt dich am Seil fest und nimm all deine Kräfte zusammen.« Maarken tätschelte ihm kurz aufmunternd das Bein, dann war er vorbei und bewegte sich auf Maeta zu.
Es war viel einfacher gewesen, sich mit den Armen nach oben zu recken, als mit den Füßen nach unten zu tasten, während seine Finger sich in die Felsvorsprünge gruben. Er war beinahe auf dem schmalen Vorsprung angekommen, als er ein leises Zischen hörte. Eine Armlänge neben seinem Kopf schlug eine stählerne Pfeilspitze Steinsplitter los.
»Maarken!«, schrie er.
»Hinter die Felsen!«
Ein weiterer Pfeil blitzte bei Maarkens Füßen auf. Pol brachte sich in Sicherheit und starrte über die Schlucht zur Felsenburg hinüber. Die Pfeile mussten von dort kommen, von einem teuflisch starken Bogen abgeschossen. Doch die Türme waren so weit weg, dass er den Bogenschützen nicht sehen konnte, der in jedem der hundert Fenster versteckt stehen mochte. Pandsala wird wütend sein, dachte er, obwohl das jetzt belanglos war.
Maarken war bereits direkt unter Maeta. Seine Finger konnten ihren Knöchel berühren. Die Kletterer über ihr hatten ihr ein neues Seil zugeworfen, und sie versuchte, danach zu greifen, als sie es in die Nähe ihrer Hände schwangen. Maarken rief ihr zu, sie solle stillhalten. Ein weiterer Pfeil und dann noch einer trafen mit leisem Klirren die Steine. Pol kauerte sich mit geballten Fäusten so klein wie möglich hinter eine Felsnase. Salziger Schweiß brannte in seinen Augen. »Komm schon, komm schon«, flüsterte er. »Bitte …«
Maarken zog sich neben Maeta hoch und griff nach ihrer Taille. Sie hustete plötzlich und zuckte überrascht zusammen. Sehr langsam glitt ihre Hand nach hinten und tastete nach dem Pfeil, der neben ihrer Wirbelsäule steckte. Ein braun und gelb gefiederter Pfeil. Meridafarben.
Ihre Finger lösten sich. Ihr großer Körper bog sich nach hinten, sodass Pol in ihr schon totes Gesicht, ihre blicklosen, schwarzen Augen sehen konnte. Ihr Fall aus Maarkens verzweifeltem, schnellem Griff, von der grauen Wand hinunter und
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