Mondlaeufer
hatten sie jetzt Anschläge auf Pols Leben versucht; von Rechts wegen müsste er die Leben von hundert Merida für jede Drohung gegen seinen Sohn fordern. Seine Truppen standen im Norden unter Walvis’ Kommando schon an der Grenze. Er musste nur Sioned durch Maarken über das Sonnenlicht verständigen, dann würde die Invasion sofort beginnen können.
Er wusste, warum er das nicht tun würde. Alle Beweise waren fort: die Pfeile mit den verräterischen bunten Federn, das Gesicht, das sicher die Narbe am Kinn aufgewiesen hatte. Der Mund schwieg für immer über das Geheimnis, wer der Mann war und wie er hereingekommen war. Gesetz war Gesetz, und Handeln ohne Beweise würde bedeuten, dass er wie Pandsalas Vater Roelstra wurde: ein Hoheprinz, der tat, was ihm beliebte, und der für die Gesetze nur ein Schulterzucken übrig hatte.
Rohan sah, dass Pol und Maarken die Felswand bezwungen hatten und in Sicherheit waren. Er wusste, dass sie sich eine Weile ausruhen würden, ehe sie sich auf den langen Weg zu dem Pfad machten, der zu der Furt flussaufwärts führte. Sie würden erst nach Einbruch der Dunkelheit in die Felsenburg zurückkehren, erst dann würde er seinen Sohn lebend wiedersehen.
»Herr«, setzte Pandsala an.
»Nein.« Er sah erst sie an, dann den armseligen Haufen grauschwarzer Asche auf den Steinen. »Jetzt nicht.« Er stieg langsam die Wendeltreppe zum Haupttrakt des Schlosses hinunter. Sein Ziel war das gläserne Oratorium, das im Sonnenlicht glitzerte. Das geschliffene, facettierte Glas zauberte Regenbögen auf den weißen Teppich und die Möbel, auf das Gold und Silber auf dem Tisch. Rohan ging zur jenseitigen Wand, ließ sich zu Boden sinken und saß mit gekreuzten Beinen da. Er lehnte sich gegen den Stein, der sich hier mit dem klaren Kristallglas traf. Von hier aus konnte er die Felswand sehen und beobachten, wie sein Sohn in die Schlucht hinunterstieg, und ihn in Sicherheit wissen.
Für wie lange?
Rohan senkte den Kopf und bedeckte sein Gesicht mit den Händen. Wozu war all seine Macht gut, wenn er seinen Sohn nicht schützen konnte? Er müsste jetzt eigentlich die Merida – und Prinz Miyon von Cunaxa, der ihnen Zuflucht gewährte – vernichten. Tobin würde diesen Mordversuch zum perfekten Anlass für einen Einmarsch erklären, noch besser als ein Vorrücken von Cunaxa auf fironesischen Boden. Warum konnte Rohan das nicht?
Und er sollte noch mehr tun. Das Angebot von Firon annehmen und dieses Prinzenreich jetzt für Pol beanspruchen. Er sollte Davvi, den Bruder seiner Frau, anweisen, die Erbin Gemma auf der Stelle mit einem seiner Söhne zu verheiraten, um dadurch einen Teil von Pols Zukunft durch Blutsverwandtschaft zu sichern. Nein, dachte Rohan müde. Es gab keine Blutsverwandtschaft. Sioned war nicht Pols leibliche Mutter.
Das war Ianthe. Ianthe, die Tochter von Roelstra, dem Hoheprinzen und Tyrannen. Und hier, bei der Felsenburg, wäre Pol beinahe gestorben. Spukte Roelstras böser Geist noch immer hier herum, wie es Rohan in jener ersten Nacht zu spüren meinte?
Er drehte sein Gesicht dem Sonnenlicht zu und fühlte die Wärme auf seinem Körper. Weder Roelstras Gegenwart noch Roelstras Vorbild würden Pol verderben. Rohan würde den Einmarsch nach Cuxana nicht befehlen; er würde auch kein Prinzenreich an sich reißen oder ein junges Mädchen der Politik opfern, nur weil es nun mal als Prinzessin geboren worden war.
Er hatte gesehen, wie Roelstra seine Töchter benutzt hatte, hatte Roelstras Armeen während eines Krieges, der auf einem lächerlichen Vorwand beruhte, auf dem Boden der Wüste gesehen. Er würde kein Hoheprinz sein wie einst Roelstra. Wenn manche das als Schwäche ansahen – er zuckte mit den Schultern, denn ihm waren nur wenige Meinungen auf dieser Welt wichtig.
Er betrachtete die Regenbögen auf dem weißen Teppich, bunte Kleckse auf farblosem Grund. Das Sonnenlicht machte das Oratorium schöner, denn die Farben erzählten von seinem Lichtläufer-Prinzen. Doch die Dinge, die Roelstra hier hereingebracht hatte, mussten verschwinden.
Rohan stand auf und ging langsam zu dem reich verzierten Tisch. Seine Finger schlossen sich um einen der goldenen Kelche mit dem Amethyst. Einen Moment später splitterte eine Kristallscheibe, und der unbezahlbare Becher verschwand im dunklen Wasser der Schlucht.
Pol hielt sich mit der Steifheit überbeanspruchter Muskeln und völliger Erschöpfung aufrecht. Sein Körper befolgte die Forderung seines Stolzes nur mit Mühe. Es strengte
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