Mondlaeufer
Stuhl halb um.
»Und? Nichts.«
»Ich weiß. Das war genau nach dem Rezept. Hollis, wäschst du bitte ihre Hände ab?«
Diesmal tauchte er die Löffel in beide Mischungen und gab etwas von der einen auf Urivals Hand und von der anderen auf die von Morwenna. Sie erstarrte, denn sie erwartete, dass irgendetwas passierte. Doch es war Urival, der überrascht einen Schmerzensschrei ausstieß.
»Herr der Stürme! Meine Hand brennt furchtbar!« Seine Finger zitterten. Es war schmerzlich mit anzusehen, wie er sich offensichtlich fühlte.
»Schnell, wasch es ab«, sagte Andry zu Hollis. Als sie fertig war, entspannten sich seine Muskeln langsam, und die Spannung in Urivals Gesicht ließ nach.
»Das war dann wohl die richtige Mischung«, stellte Andrade mit eisiger Stimme fest. Die Finger ihrer linken Hand trommelten auf dem Tisch.
»Ja, Herrin«, sagte Andry. »Morwenna, taucht bitte Eure Hand ins Wasser. Danke. Irgendwelche Nachwirkungen, Urival?«
»Es zieht ein bisschen, aber der richtige Schmerz ist weg.« Er untersuchte seinen Daumen und massierte vorsichtig den Ballen. »Lasst es nächstes Mal länger drauf. Ich will sehen, ob es sich über die ganze Hand ausbreitet.«
Andry sagte kein Wort. Er spürte Andrades Augen wie blaues Eis auf sich liegen, als er die beiden Salben auf die Finger seiner Testpersonen schmierte. Urival fluchte. Ihm stand der Schweiß auf der Stirn. Die tiefen Falten seines Gesichts strafften sich vor Schmerz, als seine ganze Hand sich krampfhaft verrenkte.
»Nein – lass es drauf«, brachte er heraus. »Es geht durch die ganze Handfläche, oh Göttin!«
Andry zuckte vor Mitleid zusammen, als Urivals Finger sich verknoteten und die Muskeln sich so sehr zusammenzogen, dass die Knochen aus den Gelenken traten. Urivals andere Hand schloss sich so fest um die Armlehne, dass das morsche Holz splitterte. Hollis wollte seine Hand abwaschen, doch er schüttelte den Kopf.
»Schluss!«, rief Andrade schließlich, als sich auch sein Handgelenk verrenkte. Hollis tauchte Urivals Hand in kaltes Wasser. Mit geschlossenen Augen und aschgrauem Gesicht fiel sein Kopf zurück. Andrade starrte Andry kalt an. »Du hast es uns gezeigt.«
»Aber es ist ungerecht, dass es nur Urival trifft.« Morwenna drehte sich um und streckte beide Handflächen aus. »Macht auf eine das Richtige und auf die andere die Fälschung. Ich weiß sowieso nicht, welches in welchem deiner kleinen Töpfe ist.«
Andry sah zu Andrade hinüber; sie nickte kurz. Er strich Morwenna die Salben auf die Hände, und sofort begannen sich die Finger ihrer Linken zu krümmen. Sie stieß die Luft durch die Zähne. »Süße Mutter! Er hat recht, es brennt furchtbar!«
Andrade stand auf, griff nach dem Wassereimer und steckte Morwennas Hand hinein. »Herzlichen Glückwunsch«, fuhr sie Andry an. »Du hattest recht. Und jetzt vernichte dieses Teufelszeug auf der Stelle!«
»Aber …«
»Vernichte es!«, donnerte sie. »Und du hast Glück, dass ich nicht auch noch die Rolle auf der Stelle verbrennen lasse! Wenn sie solches Wissen enthält, sollte sie verbrannt werden!«
»Nein!«, rief Andry unwillkürlich. Hollis legte ihm warnend die Hand auf den Arm, und er beherrschte sich.
»Nimm dich in Acht«, warnte Andrade. »Und kein Wort darüber. Zu niemandem. Hast du mich verstanden, Andry?«
»Ja, Herrin«, stammelte er.
Als Morwenna sich wieder erholt hatte, verließ sie mit Urival und Andrade die kleine Küche. Es waren keine weiteren Worte gewechselt worden. Andry ließ sich auf einen Stuhl am heruntergebrannten Kaminfeuer fallen und starrte in die Flammen. Bitteres Schweigen umgab ihn. Hollis stand neben ihm, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben.
»Sie ist blind vor Angst«, stieß Andry hervor. »Sie begreift überhaupt nichts.«
»Vielleicht hast du das falsche Beispiel gewählt«, meinte Hollis. »Es war wirklich beeindruckend, aber etwas so Schmerzhaftes war nicht gerade die klügste Wahl.«
»Was sollte ich denn sonst ausprobieren? Ich konnte doch nicht einfach jemanden krank machen und ihn dann mit einem anderen Rezept aus der Sternenrolle heilen.« Er stand auf und lief auf dem Fliesenboden hin und her. »Aber ich hatte recht, Hollis. Ich hatte recht. Sie will es bloß nicht zugeben. Weißt du, was über das Dranath geschrieben steht? Dass es die Drachenkrankheit heilt, wie wir die Seuche nennen. Lady Merisel hat in den Rollen geschrieben, dass Dranath die Krankheit heilen kann, und wir wissen, dass das stimmt, weil wir
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