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Mondlaeufer

Mondlaeufer

Titel: Mondlaeufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melanie Rawn
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es selbst erlebt haben. Wenn wir das früher gewusst hätten, wenn wir damals die Rollen gehabt hätten, dann wären mein Bruder Jahni und meine Großmutter und Lady Camigwen und all die anderen noch am Leben! Und da behauptet sie, man sollte die Sternenrolle verbrennen!«
    Die sonst so geduldige Hollis fuhr ihn plötzlich zornig an: »Begreifst du denn nicht, warum sie sich fürchtet? Sie hat siebzig Winter gesehen, Andry! Dieses Wissen bedroht sie, nicht weil sie eigensinnig ist, sondern weil sie alt ist und vielleicht nicht mehr genug Zeit hat, die Gefahr zu bannen, die sie da heraufziehen sieht! Kannst du das nicht verstehen?«
    Er starrte sie an. So oft er sich auch heimlich als Herrn der Schule der Göttin an Andrades Stelle gesehen hatte, so hatte er doch nie bedacht, dass auch er eines Tages alt werden und dass seine Zeit ablaufen könnte. Dass er dann nicht mehr sehen würde, wie Pläne Gestalt annahmen. Dass er sterben würde.
    Hollis war augenscheinlich mit dem zufrieden, was sie in seinem Gesicht las. Ruhiger fuhr sie fort: »Nicht, dass sie nicht wissen will, was in der Sternenrolle steht. Sie fürchtet eine Zukunft, die sie vielleicht nicht mehr beeinflussen kann. Sie hat sich ihr ganzes Leben mit diesen Fragen beschäftigt. Wundert es dich, dass ihr das Angst macht?«
    »Aber sie kann mir nicht befehlen, die Rolle zu verbrennen. Das kann sie nicht!«
    »Das wird sie wohl auch nicht. Sie weiß, wie wichtig die Rolle ist. Aber im Gegensatz zu dir sieht sie auch die Gefahren.« Hollis rieb sich abgespannt die Stirn. »Nimm’s mir nicht übel, aber auch du solltest besser lernen, diese Gefahren zu fürchten.«
    Schweigend nahm er die beiden kleinen Kupfertöpfe vom Tisch, ging damit zum Feuer, kratzte die Reste aus und schüttete sie auf die Kohlen. Ein ekelerregender Gestank verbreitete sich. Andry hustete und wich schnell zurück, als seine Nase zu brennen begann. Hollis, die ebenfalls den Rauch ins Gesicht bekommen hatte, taumelte hustend zu einem Stuhl, um sich zu setzen. Andry blickte sich verzweifelt um; seine Augen tränten so sehr, dass er kaum etwas sehen konnte. Hastig griff er nach einem Tuch und tauchte es in das saubere Wasser am Waschbecken. Er riss das Tuch in der Mitte durch, presste eine Hälfte vor seine eigene Nase und die andere auf Hollis’ weißes Gesicht.
    »Atmen!«, befahl er.
    Durch die Wassertröpfchen, die sie einatmeten, ließ das Brennen einen Augenblick nach. Doch ihre Augen tränten, und sie husteten noch eine ganze Weile. Als sie sich beide erholt hatten, hockte sich Andry neben Hollis’ Stuhl und sah besorgt zu ihr hoch.
    Sie wischte sich die Augen und versuchte zu lächeln. »Anscheinend haben wir noch zu wenig übersetzt, sonst hätten wir das gewusst. Glaubst du mir jetzt?«
    Andry senkte den Kopf. »Ja. Es tut mir leid, Hollis.«
    Er spürte, wie ihre Finger freundschaftlich sein Haar zausten. »Hör zu, kleiner Bruder, ich hoffe jedenfalls, dass du bald wirklich mein kleiner Bruder bist. Du bist mutig und geschickt und viel intelligenter, als du sein solltest. Und du bist viel begabter, als dir jetzt im Moment bewusst ist. Ich liebe dich um deiner selbst willen, Andry, und um Maarkens willen.«
    »Aber?«, fragte er mit belegter Stimme.
    »Du bist noch sehr jung. Man braucht Jahre, um Geduld zu lernen, Weisheit und Vorsicht. Lass nicht zu, dass deine Macht und deine Intelligenz dich das vergessen lassen.«
    Er sah auf, denn er wollte ihr versichern, dass er vorsichtig sein wollte. Doch die tödliche Müdigkeit auf ihrem Gesicht wischte alle anderen Gedanken aus seinem Kopf. »Hollis, geht es dir nicht gut? Du siehst schrecklich aus.«
    Sie lachte leise. »Auch das hast du noch zu lernen: wie man mit Frauen redet. Du solltest sagen, ›Du siehst ein bisschen müde aus, geh doch lieber schlafen.‹ Macht aber nichts. Ich gehe zu Sejast und lass mir von ihm eine Tasse von seinem Spezialtee geben. Der wirkt wahre Wunder.«
    »Ich könnte selbst ein bisschen davon gebrauchen«, gestand Andry.
    »Er schwört, dass es ein Geheimrezept von einer alten Berghexe ist.«
    Andry grinste und stand auf. »Und die hat ihn schwören lassen, dass er es niemals preisgibt, sonst würde sie ihm die Augen auskratzen und ihm bei lebendigem Leibe das Blut aus den Adern saugen …«
    »Andry!«, schalt Hollis. »Mach dich nicht darüber lustig. Maarken hat mir erzählt, dass du dich vor Eidechsen gefürchtet hast, als du klein warst, weil du dachtest, sie wären Drachenbabys, und sie

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