Mondlaeufer
Mann zu der Überzeugung gekommen, dass er wahrhaftig ihr Bruder ist.«
Setz Chiana auf ihn an, flüsterte Sioneds Stimme in seinem Hirn. Rohan sah auf seinen Ring hinunter. Der riesige, von Smaragden umkränzte Topas glänzte wie ein Drachenauge – und wartete und wartete. Drachen wussten ganz genau, wann sie zuschlagen mussten. Rohan war der Sohn eines Drachen und der Vater eines anderen.
Clutha und Saumer befragten Masul über sein Leben auf Gut Dasan, seine Kampfkünste und seine Ansichten zu allem, vom Seidenhandel bis zu dem neuen Hafen, den man an der Mündung des Faolain bauen wollte. Masul schützte in vielen Angelegenheiten der Prinzen Unwissenheit vor, doch das würde die anderen eher noch zu der Annahme verleiten, man könne ihn beeinflussen. Seine Antworten waren offen und klug ausgedacht: ehrliche Unschuld, die seine zielstrebige Berechnung verbarg und ihn als guten Prinzen ausweisen sollte. Und, was noch wichtiger war: als Prinzen, der für niemanden eine Bedrohung darstellte.
Rohan kam es vor, als sänke er in Treibsand ein. Wenn man nur die Vergangenheit heraufbeschwören könnte und die Wahrheit so deutlich zeigen, wie jetzt Masuls Gestalt und Züge seine Lügen deckten …
Beschwören.
Mächtige Lichtläufer konnten Einblick in ihre eigene Zukunft bekommen. Sioned hatte gewusst, dass Rohan auf sie wartete, seit sie sechzehn war. Jahre später hatte sie gesehen und ihm gezeigt, wie sie ein Kind mit Rohans blondem Haar hielt; sie hatten gewusst, dass sie Rohan einen Sohn schenken würde, obwohl sie unfruchtbar war. Manchmal konnten Faradh’im Visionen der Zukunft heraufbeschwören. Konnten sie dasselbe denn auch mit der Vergangenheit?
Andrade war in jener Nacht dort gewesen, ebenso Pandsala. Ihrer beider Zeugnis war wertlos aufgrund ihrer Beziehungen zu Rohan: Andrade war seine Tante, Pandsala seine Regentin. Doch wenn eine oder beide eine klare Vision von dem präsentieren konnten, was damals geschehen war …
Rohan erhob sich und blickte auf die Wasseruhr. Alle verstummten; ohne jede Mühe zog er ihre Aufmerksamkeit von Masul ab. Der junge Mann erkannte das und verriet seinen Trotz. Er sollte im Mittelpunkt stehen, und es kam ihn sichtlich hart an, so leicht von diesem einfachen, ruhigen Mann ausgestochen zu werden, der doppelt so alt war wie er.
»Ihr Herren und Damen«, sagte Rohan, »es ist schon spät, und ich bin sicher, dass wir alle Zeit und Ruhe brauchen, um diese Angelegenheit zu überdenken. Es müssen noch Beweise vorgelegt werden. Lord Lyell, seid so gut und haltet Euch bereit, falls wir Euch noch einmal rufen wollen.« Er tat, als müsse er seine Notizen durchgehen. »Cousins, heute Nachmittag geht es um Handelsfragen zwischen Cunaxa, Fessenden, Isel und Ossetia. Bis dahin haben wir frei. Ich danke den Erben und Abgesandten für ihr Erscheinen und ihre Aufmerksamkeit – und ich hoffe, es war eine erbauliche Erfahrung.«
Masul verbeugte sich auch beim Hinausgehen nicht. Er wurde von Miyon, Cabar und Velden begleitet, während Lyell ihnen unbeachtet folgte. Chadric ging ein paar Schritte auf Rohan zu, als wolle er etwas sagen, schien sich dann jedoch eines Besseren zu besinnen und half seinem Vater, das Zelt zu verlassen. Bald war Rohan mit Pol allein. Der Junge starrte ins Leere. Um ihm Zeit zu geben, seine Gedanken und Fragen zu ordnen, lief Rohan langsam einmal im Kreis und hielt wieder vor der Wasseruhr. Er fuhr mit einem Finger über den geschnitzten Drachen und sah zu, wie das Wasser unbestechlich durch den Rubin tropfte.
»Vater?«
»Ja, Pol.«
»Warum lässt du sie nicht heute Nachmittag über diesen Beweis diskutieren?«
»Denk nach, über wessen Handel wir sprechen werden.«
Es gab eine kurze Pause. »Miyons, also muss er kommen und aufpassen, und du kannst ein Auge auf ihn haben. Aber die anderen haben doch noch nicht richtig Partei ergriffen, oder?«
»Nein. Wenn ich jetzt aber zuhöre, wie sie mit Miyon über Geschäfte verhandeln, bekomme ich einen Hinweis, auf wessen Seite sie sich in dieser anderen Sache stellen wollen.«
»Aha!« Nach einer weiteren Pause sagte Pol aufgeregt: »Und wenn er sich anstellt mit seiner Wolle und seinen Erzen, könnten sie ärgerlich werden und zu uns halten!«
»Vielleicht.« Rohan drehte sich um und fragte: »Wie bist du darauf gekommen?«
»Miyon scheint ziemlich leicht zu reizen zu sein«, sagte Pol gewitzt. »Ich glaube, er ist sehr schlau. Aber er ist auch stur und stolz.«
»Eine gefährliche Mischung. Warum sollte
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