Mondlaeufer
nicht sterben. Rohan fasste Urival an der Schulter, der kurz den gesenkten Kopf hob. In dessen goldbraunen Augen stand keine Anklage. Nur Qual.
Andrade bewegte sich leicht. Ihre Augen öffneten sich. Sie waren verschleiert und ohne Farbe. Als sie Rohan sah, verzogen sich ihre Lippen zu einem winzigen, kläglichen Lächeln. »Pol«, wisperte sie. »Ist er sicher?«
Er nickte wortlos.
»Sioned?«
Wieder nickte er, und die Spannung wich aus ihren Zügen. Mit einer Liebe, die wie ein Messer in sein Herz fuhr, murmelte sie sehr weich seinen Namen. »Keine Schuld«, flüsterte sie mit schon brechender Stimme. »Vergib mir …«
Ihr vergeben? Er schluckte und berührte ihr Gesicht. Die Haut war so kalt. »Bitte – Andrade, bitte …«
»Tut mir leid … ich konnte nichts … beweisen …« Plötzlich wurde ihr Blick hart. »Tötet ihn«, sagte sie sehr bestimmt.
Noch einmal nickte Rohan. Andrade suchte Lleyn mit dem Blick, und das alte, herrische Befehlen stand in ihrem Gesicht.
»Er wird sterben«, versicherte Lleyn ihr. »Ade, liebe Freundin.«
Sie sank entspannt in Urivals Umarmung zurück und blickte zu ihrem Gefährten hoch. Ein leichtes, sanftes Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. Als das Licht aus ihren Augen wich, sah sie ihn immer noch an.
Er ließ nicht zu, dass jemand anders sie berührte, sondern trug sie selbst den Hügel hinunter, halb blind vor Tränen, die wie Eisbäche in der kalten Nachtluft über seine Wangen rannen. Alle folgten ihm: Prinzen und Faradh’im, Feinde und Freunde, Blutsverwandte, Menschen, die Roelstra geprägt hatte, und solche, die zu Urival gehörten. Er hielt sie fest und sah, wie der Wind Strähnen ihres silbernen Haars über ihre Stirn wehte, sah auch, wie das Licht der aufgehenden Monde von den zehn Ringen, den Ketten und den Armbändern zurückgeworfen wurde. Nur zu bald würde er sie abnehmen, alle bis auf den zehnten an ihrem Ehefinger. Er würde sie unter ihren Verwandten verteilen. Einer von ihnen würde zur Erinnerung auch an Sioned gehen. Doch den zehnten Ring würde er dort lassen, wo er seinen eigenen Ring hingesteckt hätte, wenn die Schule der Göttin sie nicht schon lange vor ihm für sich gefordert hätte. Die zarten Ketten aber würde er selbst behalten.
Er hörte, wie die anderen sich zerstreuten, als sie sich dem Fackelschein des Lagers näherten. Einige weinten leise, andere murmelten tröstende, traurige Worte oder ergriffen politisch Partei. Er trug sie in den weißen Pavillon und legte sie vorsichtig auf ihr Bett.
Der Hoheprinz war der Einzige, der es wagte, ihm dorthin zu folgen. Rohan nahm eine leichte Decke vom Fußende des Bettes und bedeckte damit liebevoll ihren Leib.
»Meine Mutter und sie waren Zwillinge, doch sie waren einander nie sehr ähnlich«, sagte er ruhig. »Aber jetzt gleichen sich ihre Gesichter völlig.«
Urival verstand ihn. Milar war immer die Hübsche gewesen, die Strahlende, Liebliche. Doch im Tod war Andrades Gesicht weich und schön. Es war so ruhig, dass es den rastlosen, ungeduldigen Geist Lügen strafte, der heute Nacht befreit worden war. Er legte ihre Arme so auf die Decke, dass jede Fingerspitze einen Ring berührte.
»Vergib mir«, flüsterte Rohan.
Urival schüttelte den Kopf, als er die Qual in Rohans Augen sah. »Von allen Menschen solltet Ihr doch am besten wissen, dass sie nie etwas tat, was sie nicht wollte.«
»Wenn ich nicht …«
Urival seufzte ungeduldig, denn er wünschte sich, Rohan würde seine Schuld woandershin tragen und ihn mit Andrade allein lassen. »Und wenn die Sternenrolle nicht gewesen wäre, und wenn Ianthe kein berechnendes Biest gewesen wäre und Pandsala desgleichen, und wenn Andrade Sioned nicht an die Schule der Göttin geholt hätte – wie weit muss ich noch zurückgehen? Es gibt nichts zu vergeben.« Er hielt inne und zuckte mit den Schultern. »Vielleicht werdet Ihr mir eines Tages glauben.«
»Vielleicht.«
Sie saßen lange schweigend da. Schließlich sagte Urival: »Ihr müsst es jetzt erfahren. Andry soll ihr Nachfolger werden und die Ringe tragen.«
»Andry?«
Blaue Augen von fast derselben Farbe wie die von Andrade verengten sich nachdenklich. Urival erkannte, dass er den Rest seines Lebens um sich herum vieles sehen würde, was wie ein Echo von ihr war. Aber niemals sie selbst. Niemals.
»Er ist doch noch ein Kind«, sagte Rohan.
»Er ist im gleichen Alter wie Ihr, als Ihr die Prinzenherrschaft übernahmt. Er war ihre Wahl. Der Einzige, den sie auswählen konnte. Nicht
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