Mondlaeufer
gesenktem Kopf und hängenden Schultern neben ihm. Er sieht so alt aus, dachte Rohan voller Mitgefühl und fasste Sioneds Hand fester. Er wollte nicht daran denken; dass er vielleicht auch einmal so dastehen und zusehen würde, wie man seine Geliebte dem Feuer übergab.
Auf eine Geste von Andry hin bewegte sich die zuvor reglose Luft, wehte über Andrades Körper, ließ den Saum ihres Mantels flattern und berührte lose Strähnen ihres silbern glänzenden Haars. Tobin und Sioned hatten Urival ihre Hilfe angeboten, doch er hatte eifersüchtig an dem einzigen Dienst festgehalten, den er Andrade noch erbringen durfte: ihren Körper zu waschen, sie in einen weißen Umhang zu kleiden, ihr langes Haar zu flechten.
Die anderen Lichtläufer formierten sich zu einem Kreis um den Scheiterhaufen. Urival trat als Letzter vor und reichte Andry dabei eine kleine Silberflasche mit duftendem Öl. Doch der junge Mann gab dem Alten, dessen Hände plötzlich zitterten, die Flasche mit einem Kopfschütteln zurück. Rohan nickte langsam und zustimmend. Urival sollte an der Ehrung von Andrade teilhaben. Es war nur recht so.
Er konnte den schweren Geruch der Kräuter und Gewürze in der stillen Luft wahrnehmen, als Urival mit dem dickflüssigen Öl zärtlich Andrades Hände, Brauen und Lippen und die vier Ecken des Mantels benetzte. Dann trat der alte Mann zurück. Tränen glänzten auf seinen Wangen, als Andry Feuer beschwor.
Die Lichtläufer in ihren grauen Umhängen und Kapuzen senkten die Köpfe. Die Flammen schlugen höher und beleuchteten einen langen Augenblick Andrades ausgeprägtes, strenges Profil. Rohan fühlte, wie Sioned zitterte – und dann ging sie nach vorn, um sich ihresgleichen anzuschließen und mit den Faradh’im über die Frau zu wachen, die sie aufgenommen hatte, die ihr das Wesen ihrer Gaben erklärt und sie dann in die Wüste geschickt hatte, damit sie die Frau eines Prinzen wurde. Tobin zögerte, dann trat sie an Sioneds Seite. Maarken folgte ihr auf dem Fuße, und zuletzt verließ auch Pol Rohan, um sich zwischen seiner Mutter und seinem Cousin einzureihen. Rohan bemerkte, dass Chay und Sorin etwas näher heranrückten. Aus der ganzen Familie von Andrade waren sie drei die Einzigen, denen kein Lichtläufer-Feuer gegeben war.
Andrade hatte erhofft und geplant, dass Rohan die Gabe haben würde. Stattdessen war es Pol, der beides sein würde, Faradhi und Prinz. In der Menge seufzten einige leise auf, als er sich den Lichtläufern anschloss und sie wieder einmal an etwas erinnerte, was viele von ihnen lieber vergessen hätten.
Rohan sah sich auf den Klippen um. Seine Augen fanden Masul. Mordlustig, gierig, skrupellos – Masul war alles, was Pol nicht war. Was wäre, wenn sich Faradhi- Kräfte zu derartigen Charaktereigenschaften gesellt hätten? Er erkannte die Gründe dafür, dass Andrade eine strenge Herrin gewesen war, und für ihre anmaßende, arrogante Forderung, dass alle Lichtläufer sich ihrem Willen zu beugen hätten. Sioned hatte es nicht getan; Pandsala ebenso wenig. Sie hatte Rohan ihrerseits eine bittere Lektion verpasst, was daraus werden konnte, wenn die Macht der Faradh’im und die der Prinzen sich unter einem einzigen, skrupellosen Willen vereinte.
Früher oder später würde es andere Prinzen mit der Gabe geben. Pol, Maarken und Riyan würden nicht lange die Einzigen bleiben. Andrade hatte darauf vertraut, dass ihr unbeugsamer Wille solchen Menschen genug Disziplin einbläuen würde, um sie von einem Missbrauch ihrer Macht abzuhalten. Doch Andrade war tot, und Andry würde ihren Platz einnehmen. Er ist zu jung, dachte Rohan stirnrunzelnd. Viel zu jung.
»Genauso alt wie du, als du regierender Prinz wurdest …«
Er warf einen Seitenblick auf Chay. Im gleißenden Licht des Scheiterhaufens schien dessen stolzes, schönes Gesicht wie aus Stein gemeißelt. Generationen loyaler Athr’im und kühner Krieger leuchteten aus seinen Augen. Dann suchte Rohans Blick seine Schwester im Kreis der Lichtläufer. Die Spitzen ihrer schwarzen Zöpfe lugten unter dem grauen Schleier hervor. Sie war eine wirklich bemerkenswerte Frau: Prinzessin und Politikerin, von Haus aus eine Kriegerin, die auf einen großen Stammbaum von Prinzen zurücksah. Wenn Andry von solchen Menschen abstammte, musste er einfach stark sein. Vielleicht auf ganz andere Weise als Andrade, wie es schon seine Weigerung anzeigte, ihre Armbänder zu tragen. Aber dennoch war er stark.
Die erste Wartezeit war vorüber, und die Leute von
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