Mondlaeufer
betrachtete seinen dunklen, gesenkten Kopf über dem Kragen seiner grauen Trauerkleider. Plötzlich fiel ihm auf, wie viele Silberfäden Chays Haare bereits durchzogen. Sioned und Pol gingen auf der einen Seite der Bahre, Tobin und zwei ihrer Söhne auf der anderen. Andry führte die Prozession. An seinen Handgelenken glänzten die Armbänder. Urival folgte ihm mit den Lichtläufern. Die Adligen, ihre Familien und Gefolgsleute und schließlich die einfachen Leute folgten Rohan – dessen Rücken auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin Tallain deckte.
Sie legten Andrade auf die Steine, verbeugten sich noch einmal vor ihr und gingen hinüber zu ihren Familien. Das Ritual oblag heute Abend Andry; er allein würde es leiten. Nicht einmal Urival, der sie so lange gekannt und geliebt hatte, konnte als etwas anderes teilnehmen denn als einfacher Faradhi.
Andry trat vor: mager und blass und mit den streng abgezirkelten Bewegungen eines Menschen, dessen starre Kontrolle keine natürlichen Gesten mehr zulässt. Er wartete, bis sich alle aufgestellt hatten, und Rohan folgte seinem Blick über die Menge, so weit es ging: Prinzen, Athr’im , ihre Frauen und Kinder und ihr Gefolge; die Lichtläufer auf der einen Seite; viele Kaufleute und Bedienstete vom Markt auf der anderen Seite des Flusses. Und alle wurden umringt von Soldaten mit den Emblemen und Farben der dreizehn Prinzenreiche auf ihren Tuniken; keiner trug jedoch eine Waffe. Rohan fragte sich, wie viele von ihnen wohl bald ihre Farben und Waffen in tödlichem Ernst tragen würden.
Andry schien noch auf irgendjemanden zu warten, und ein kleiner Muskel in seiner Wange spannte sich, als er diese Person nicht fand. Rohan kannte seinen Neffen lange genug, um sein Mienenspiel lesen zu können, selbst jetzt, wo er der Herr der Schule der Göttin war.
Über den langen, weißen Umhang von Andrade wurde Wasser gesprengt. Die Menge der Zuschauer, die ihr die letzte Ehre erwiesen, war größer als bei allen früheren Gebietern der Schule der Göttin. Sie hielten sich in respektvoller Entfernung von Andrades Familie und den Faradh’im. Das Ritual selbst war allen wohl bekannt, doch diejenige, für die sie heute die Totenwache hielten, war für alle die personifizierte Macht der Göttin gewesen. Viele blickten mit Misstrauen auf den jungen Mann, der sie ersetzen sollte, und noch mehr hielten ihn für eine leichte Beute. Rohan merkte, dass ein leises, ernstes Lächeln über seine Lippen glitt, als Andry – ein schlanker, grauer Schatten im zunehmenden Zwielicht der Dämmerung – jetzt eine Hand voll Erde durch seine Finger auf den weichen Mantel rinnen ließ. Wer ihn für schwach hielt, würde eine Überraschung erleben. Sie sollten eigentlich wissen, dass ein Mann aus Chays, Andrades und Zehavas Familie nicht nur Macht, sondern auch Stärke besaß.
Offensichtlich wollte auch Andry, dass man diese Eigenschaften an ihm bemerkte. Er umkreiste Andrades Scheiterhaufen einmal, damit ihn alle richtig sehen konnten. Dann wandte er sein Gesicht über ihren Körper hinweg nach Westen der offenen See zu und hob beide Arme. Seine Ärmel fielen zurück und entblößten die Armbänder; in denen sich silbern und golden die letzten Sonnenstrahlen fingen: Seine vier mit winzigen Rubinen verzierten Ringe glänzten auf, als er plötzlich beide Armbänder abstreifte und sie Andrade an die überkreuzten Handgelenke legte.
Rohan bemerkte, dass Sioned sich neben ihm erschrocken aufrichtete. Er nahm ihre Hand, und sie begegnete verwirrt seinem Blick. Rohan musste sich eingestehen, dass auch er es nicht verstanden hätte, wenn Andry es ihm nicht zuvor erklärt hätte. Der junge Mann wollte, dass jeder erkannte, dass er keine zweite Andrade sein würde. Als sie Herrin geworden war, hatte sie die Armbänder des Mannes angelegt, der vor ihr der Herr gewesen war – eine wohl durchdachte Demutsgeste, denn auch sie war sehr jung gewesen, als sie den Titel übernahm. Doch die goldenen und silbernen Armbänder, die ihre Handgelenke den größten Teil ihrer siebzig Jahre hindurch umschlossen hatten, würden in den Flammen schmelzen und verschwinden, wenn diese ihre leere Hülle verzehrten. Rohan wusste nicht, ob Andrys Geste die Tat eines anmaßenden Kindes oder die eines Mannes war, der genau wusste, was er tat. Ihm war jedoch klar, dass sie es früher öder später alle herausfinden würden.
Urival hatte Andrys Plan als Affront empfunden, ihm jedoch nicht zu widersprechen gewagt. Jetzt stand er mit
Weitere Kostenlose Bücher