Mondlaeufer
Schatten kämpfen müssen. Er hatte die Geheimnisse ihrer Kunst erlebt, ihre bewusste, kraftvolle Herrschaft über ihre Gaben. Er hatte in ihr immer nur seine Mutter gesehen, doch gestern Nacht hatte er erkannt, was für eine Macht sie als Faradhi hatte. Sein Blick suchte und fand ihre hochgewachsene, schlanke Gestalt. Ihr rotgoldenes Haar glänzte selbst unter dem einfachen grauen Schleier. Sie stand als Lichtläuferin im Kreis, obwohl sie nur den Smaragdring trug, der für ihre Stellung als Höchste Prinzessin stand. Plötzlich fragte er sich, welche Art der Macht ihr wohl die meiste Befriedigung brachte. Er wusste, welche sie aufgeben würde, wenn sie wählen müsste.
Andry hatte seine Wahl vor langer Zeit getroffen. Als Sohn eines wichtigen Athri und nahen Verwandten von Prinzen hätte er ein Schloss oder Gut erhalten und darüber herrschen können. Macht, Verantwortung und Ehre waren ihm sicher. Doch er hatte die Schule der Göttin und ihre Ringe gewählt, von denen bald zehn an seinen Fingern stecken würden. Pol war nicht so erstaunt gewesen wie die anderen, dass man Andry gewählt hatte. Schon gar nicht, nachdem er erlebt hatte, wie er Masul gegenübergetreten war. Aus der Stimme seines Vetters hatte absolute Autorität gesprochen, und Andrys Gesicht war über Nacht zu dem eines Mannes von zwei Mal zwanzig Jahren gereift. Andry war genau, was und wo er sein wollte. Er besaß jetzt alles, was er sich immer erträumt hatte: das Einzige, was er je gewollt hatte.
Während er ihn aus zusammengekniffenen Augen beobachtete, fragte sich Pol, warum das so war. Maarken und Riyan hatten dieselben Aussichten wie Andry: ein gutes Leben als Herren auf ihren eigenen Besitztümern, als Vertraute und mächtige Berater des Hoheprinzen. Sie waren Männer, mit denen man zu rechnen hatte. Doch nicht so mächtig wie jetzt Andry.
Pol verlagerte etwas sein Gewicht. Ihm fiel auf, dass Prinz Lleyn jetzt Chadrics stützenden Arm annahm. Die beiden würden ihn weiter unterrichten, wie sie Maarken unterrichtet hatten. Er würde lernen, wie ein Prinz zu handeln. Er hatte keine Wahl, was seine Zukunft anging. Ebenso wenig Maarken oder Riyan. Auch sie waren Lichtläufer, genau wie er einer sein würde. Doch sie würden nicht gleichzeitig die enorme Macht eines Hoheprinzen besitzen.
Und das war es, worin er und Andry sich glichen, erkannte er. Da sie im Alter nur fünf Jahre trennten, würden sie den Rest ihres Lebens miteinander zu tun haben. Andry würde wohl auch seine Ausbildung zum Faradhi übernehmen. Um Pols Mund zeigte sich plötzlich eine neue Linie fester Entschlossenheit.
Er würde eines Tages Hoheprinz sein; er würde sich nicht von seinem Vetter in der Schule der Göttin beherrschen lassen.
Es war keine Arroganz, dass er diese Entscheidung fällte, auch kein eifersüchtiges Verlangen, uneingeschränkt Macht zu besitzen. Es war reine Selbsterhaltung. Er wollte nicht in dem Zwiespalt leben, der seine Mutter ständig gequält hatte, wie er jetzt begriff. Sie war Lichtläuferin gewesen, bevor sie Prinzessin wurde. Doch er war als Prinz geboren worden und würde es immer sein. Dass er auch Faradhi war, war ein Geschenk der Göttin, das er nicht verschwenden wollte. Er würde lernen, was Andry ihm vermitteln konnte, und es benutzen. Aber für seine eigenen Ziele, nicht für die der Schule der Göttin.
Er fragte sich, warum er auf einmal vor seinem Cousin auf der Hut war. Zwischen Stronghold und Radzyn hatte es immer enge Beziehungen gegeben, doch der Altersunterschied von fünf Jahren war ihm, als er noch ein kleiner Junge war, der seinen älteren Cousins nachlief, immer viel größer vorgekommen. Pol war erst sieben gewesen, als Andry bei Prinz Davvi Knappe geworden und dann an die Schule der Göttin gegangen war. Wenn er ihn jetzt betrachtete, war es, als sähe er einen Fremden.
Doch dann schalt er sich. Er und Andry waren blutsverwandt. Sie hatten gemeinsame Großeltern, stammten beide aus der Wüste und waren beide Lichtläufer. Es gab etwas, was sie verband, sodass sie einander verstehen und einträchtig miteinander arbeiten konnten. Es gab keinen Grund, daran zu zweifeln. Es würde nicht so sein wie zwischen Andrade und Roelstra, auch nicht eine so gespannte Beziehung wie zwischen Andrade und seinen Eltern.
Außerdem wusste Pol, dass er und nicht Andry das Ziel von Andrades Träumen verkörperte. Sie hatte einen Lichtläufer-Prinzen gewollt, nicht einen Abkömmling von Prinzen, der die Lichtläufer regierte.
Dennoch
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