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Mondlaeufer

Mondlaeufer

Titel: Mondlaeufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melanie Rawn
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hatte sie es doch genutzt, den Hoheprinzen Roelstra einzuwickeln. Aus der Ehe war Ianthe hervorgegangen, die drei ehrgeizigen und dennoch formbaren Söhnen das Leben geschenkt hatte. Sie waren die Eckpfeiler der Macht, die sie heute Nacht beschwören würde, und ihretwegen war sie sich ihres Erfolgs so sicher.
    Vierzehn Jahre zuvor war »Sieg« ein Wort der anderen gewesen. Für sie war es nur noch ums Überleben gegangen – wie seit Jahrhunderten für ihr ganzes Volk, seit die Lichtläufer aus ihrem Exil auf Dorval auf den Kontinent zurückgekehrt waren und die Diarmadh’im und deren Macht, Sprache und Traditionen zerstört hatten. Unbarmherzig hatten die Lichtläufer unter drei Anführern – auch da diese Zahl, dachte sie verbittert – die Diarmadh’im in abgelegene Berggegenden getrieben, sie gehetzt und abgeschlachtet. Die Namen dieser drei Anführer waren noch heute verboten, damit nicht der Wind deren Geist zu diesen letzten Zufluchtsstätten führte.
    Doch jetzt hatte sie selbst drei Anführer, sagte sie sich, als sie Ianthes starke Söhne musterte. Sie würden ihr gehorchen und ihr Werk vollbringen, und sie würde triumphieren. An dem Tag, als man sie zu ihr in den Schutz der Berge gebracht hatte, war ihre Jugend zurückgekehrt.
    Die Sonne war untergegangen, und in der Dunkelheit leuchtete der erste Stern. Die Frau breitete die Hände aus, sodass der einzelne, winzige Lichtpunkt genau zwischen ihren gespreizten Fingern stand. Zwischen ihren erhobenen Armen breitete sich Sternenglanz aus. Sie ballte die Hände zu Fäusten, während sie mit halb geschlossenen Augen das kalte Feuer verknüpfte und in der Mitte verankerte, ehe sie das Lichtband um die Steine und durch sie hindurch wand.
    Ihre Eckpfeiler, die Söhne von Ianthe, begannen zu zittern. Deren Erschaudern jagte durch den Ring der Hände und Körper zwischen ihnen, und die Stärke der Frau wuchs, als sie die Energie der neunundneunzig Leben einsog, die durch das Sternenfeuer verbunden waren. Und diese Macht lenkte sie in den Steinkreis. Einen Augenblick später konnte man erkennen, was der Name ihres Volkes bedeutete: Diarmadh’im , Steinbrenner.
    Sie stand so reglos da wie der Steinhügel, als vor ihren Augen eine Vision im kalten Schein weißer Flämmchen auftauchte. Zuerst sah sie lange, schöne Finger, die sich einem Kaminfeuer entgegenstreckten. Zehn edelsteinbesetzte Ringe steckten an den Fingern, und dünne Kettchen aus Gold oder Silber führten von jedem Ring zu den Armbändern an den knochigen Gelenken. Dann erschien ein stolzes Gesicht mit klaren Zügen. Das Haar war einst blond gewesen. Die blauen Augen strahlten noch immer und verengten sich etwas, als das Feuer frisches Holz fand und heller brannte. Doch die schmalen Hände näherten sich ihm weiter. Sie rieb sie, damit sie warm wurden. Lady Andrade aus der Schule der Göttin spürte die Kälte.
    Ein Mann, der nur wenig jünger war als sie, legte ihr einen schweren, pelzbesetzten Mantel um die Schultern. Es war Lord Urival, der Herr der Lichtläufer und Präfekt von Lady Andrade. Schöne Augen von seltsamer goldbrauner Färbung leuchteten aus einem Gesicht voller Falten, an dem nichts Schönes war. Er zog einen Tisch neben ihre Stühle und setzte sich, wobei er an seinen neun Ringen rieb, ehe er die Falten seiner braunen Wollrobe um sich schlug.
    Sie unterhielten sich kurz, was man vom Steinkreis aus nicht hören konnte, doch auf einmal flogen ihre Köpfe gleichzeitig herum. In die Vision trat ein großer, breitschultriger Lichtläufer mit dunklem Haar, der erst zwei Tage zuvor auf der Straße zur Schule der Göttin knapp dem Tode entronnen war. Sein Gesicht war von Erschöpfung und Schmerzen gezeichnet. Einen Arm hielt er verkrampft an der Seite, wodurch er instinktiv den unförmigen Verband um seine Schulter schützte. Er verbeugte sich, sagte etwas und stellte seine Satteltaschen auf den niedrigen Tisch.
    Die Zuschauerin stieß enttäuscht den Atem mit einem Zischen aus. Ihre Truppen hatten diesen Mann nicht aufhalten können. Beim Namenlosen, der Anblick der Ledertaschen mit den kostbaren Schriftrollen darin war schwer zu ertragen! Hungrig heftete sie ihren Blick darauf. Als ihre Aufmerksamkeit sich wieder den Personen am Feuer zuwandte, war der verwundete Lichtläufer verschwunden.
    Lord Urival öffnete die Satteltaschen und zog vier lange Röhren heraus. Wenig später war die erste Schriftrolle auf dem Tisch vor ihm ausgebreitet, und zwar so, dass Lady Andrade alles sehen konnte.

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