Mondlaeufer
gesorgt, dass wir und alle unsere Taten in Vergessenheit gerieten. Was sie über uns wussten, wurde jedoch niedergeschrieben. Und nun hat jemand die Schriftrollen gefunden und sie Lady Andrade in die Hände gelegt.«
»Sie verstand aber offenbar kein Wort«, gab Ruval zu bedenken.
»Sie wird es. Sie ist schlau. Und skrupellos. Sie wird wünschen, dass den Faradh’im unsere einstige Macht zur Verfügung steht.«
»Dann müssen die Schriftrollen zerstört werden«, überlegte Marron, »das ist doch leicht, selbst auf die Entfernung. Ein kleiner, gut gezielter Sternenbrand …«
»Nein! Ich muss wissen, was in ihnen steht! Ich muss wissen, wie viel verloren gegangen ist!«
»Dann muss man sie stehlen«, meinte Segev, »wie uns das Wissen gestohlen wurde. Man könnte …«
Mirevas Augen verengten sich im Sternenlicht, als sie ihn ansah. »Man könnte?«, hakte sie nach.
»Jemand mit der Gabe könnte als Schüler in die Schule der Göttin gehen, ihr Vertrauen gewinnen und dann die Rollen stehlen.«
»An wen denkst du da?«, fragte Marron betont sanft.
»Nicht an dich!«, schoss sein jüngster Bruder zurück. »Du würdest so behutsam vorgehen wie ein brünstiger Drache!«
»Und du glaubst also, du könntest das tun?«, spottete Ruval.
»Ich kann es. Und ich werde es tun.« Ein Lächeln glitt über Segevs harte Züge. »Und vielleicht kann ich gleichzeitig die Sache mit der guten Tante Pandsala in Ordnung bringen, die Großvater während des Krieges an Prinz Rohan verraten hat.«
»Dein Hauptziel müssen die Schriftrollen sein«, sagte Mireva. »Überlass die Regentin mir. Und Masul, ihrem Möchtegern-Bruder.« Sie lachte vor Erregung leise auf. »Ausgezeichnet, Segev! Dein Plan ist eines Prinzen und Diarmudh’im würdig. Aber ich muss dir noch ein paar Dinge beibringen, ehe du gehst. Komm morgen Abend zu mir.«
Sie verstanden, dass sie verabschiedet waren, und gingen. Mireva hörte das Zaumzeug klirren, als sie ihre Pferde bestiegen, die sie im Wald gelassen hatten. Sie hörte auch, wie Marron seinen Bruder aufzog, er würde ein Faradhi -Schwächling werden. Als ihre Streiterei leiser wurde, machte sie sich auf den langen Weg zu ihrem Haus und genoss dabei die Berührung des kühlen Sternenlichts, das durch die Bäume fiel.
Sie bewohnte ein niedriges Steinhaus, das viel größer war, als es nach außen hin den Anschein hatte. Es schien an einem Berg zu kleben, war jedoch in Wirklichkeit von Generationen ihrer Vorfahren tief in den Berg hineingegraben. Die beiden vorderen Räume schienen das ganze Haus auszumachen, doch die Holzbretter der Rückwand verbargen eine Tür, die in seinen wichtigsten Teil führte. Mireva zündete zunächst ein Feuer gegen die Kälte der Nacht an und ging dann zu der grob verkleideten Wand, wo sie auf einen Mechanismus drückte, der in einer Ritze verborgen war. Sie ächzte ein wenig, als sie voller Anstrengung die Tür aufstieß, die knarrend und widerwillig aufschwang. Der Korridor dahinter war so finster wie draußen die Nacht. Mireva schlug Eisen gegen Feuerstein und entzündete eine Flamme auf einer dünnen Wachskerze. Wenn sie wollte, konnte sie Feuer herbeirufen, doch sie benutzte die Lichtläufer-Methoden nur, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Sie nahm die Kerze aus ihrer Nische und lief den Gang hinunter, ohne die niedrigen Gänge zu beachten, die vom Hauptweg abzweigten. Schließlich war sie an ihrem Ziel angelangt und steckte die Kerze in einen Halter innen neben der Tür.
Gold und Silber schimmerte hier, und Edelsteine tränkten den Raum mit Regenbogenfarben. In einer Ecke stand ein gewaltiger Spiegel, auf dessen mitternachtsblaue Samthülle ein silbernes Sternenmuster gestickt war. Große Truhen und Kisten nahmen den meisten Platz in dem Raum ein. Mireva nahm ein Kästchen, öffnete es und entnahm ihm ein Stückchen Pergament, in das etwas Brüchiges eingewickelt war, das an Minze erinnerte. Es waren nur noch fünf solche Päckchen übrig; bald würde sie wieder sammeln müssen: hoch oben in den Bergen, wo die Kräuter stark und wirkungsvoll waren.
Dann kehrte sie in die Außenräume zurück und schob die schwere Tür wieder an ihren Platz. Nichts verriet, dass es sie überhaupt gab. Sie holte eine Flasche und einen Kelch, setzte sich in einen weichen Stuhl vor das Feuer und rührte den Inhalt des Päckchens in die Flasche. Sie wartete, bis die Kräuter sich verteilt hatten, schenkte sich dann von dem Wein ein und trank ihn in drei langen Zügen. Vor einigen
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