Mondlaeufer
Sioned hatte einen Lichtdom aus Sternenfeuer gewoben, um jede Einmischung von außen zu verhindern. Andrade und Urival waren in der mächtigen Beschwörung gefangen worden, auch Pandsala, die daneben stand, selbst Tobin, die mit Sioned im fernen Skybowl war. Und auch Pol war in dieses gefährliche, verbotene Lichtgewebe eingesponnen worden, obwohl er gerade erst einen Tag alt war.
»Tante Sioned hat das getan?« Andry blickte auf und runzelte die Stirn. »Aber das ist doch unmöglich, und selbst wenn es möglich wäre …«
»Wenn es nicht möglich wäre, warum wäre es dann verboten?«, fragte Urival. »Wir tun es nicht, doch wir wissen auch, dass es geht. Sioned hat es getan.«
»Wer das kann, muss stärker sein als wir.«
»Nicht unbedingt.«
»Seht euch diese Seite an.« Andrade fuhr wieder über das Muster eines sternenübersäten Nachthimmels. » Die Hexenkunst .«
»Kein Wunder, dass es Meath in Angst und Schrecken versetzt hat. Und kein Wunder, dass jemand ihn töten wollte, um das hier zu bekommen. Wissen, das unsere Vorfahren auf Dorval zurückgelassen haben und das wohl vergessen werden sollte?«
»Irgendjemand will uns daran hindern, diese Dinge zu erfahren, so viel steht fest«, sagte Andry.
»Die Versuchung muss sehr groß sein.« Die Herrin der Schule der Göttin faltete ihre Hände mit ihren Ringen fest zusammen. »Ich bin versucht. Ich werde der Versuchung nachgeben. Ich muss wissen, was darin steht. Andere wissen es, also muss ich es auch wissen.«
»Sie hatten ihre Gründe, es zurückzulassen«, warnte Urival. »Gründe für das Verbot, das Sternenlicht zu benutzen. Andrade, die Gefahr …«
»… läge darin, nichts zu wissen«, unterbrach Andry ihn ungestüm. Er war aufgeregt. »Die Herrin hat recht. Wir müssen wissen, was es ist und wie man es benutzt. Und sei es auch dazu, uns davor zu schützen.«
Er wandte sich wieder der Rolle zu und bemerkte daher nicht den Blick, den die beiden Älteren austauschten. Ohne besonderes Können, nur weil sie einander lange Jahre kannten, dachten Andrade und Urival dasselbe, als Andry in der Mehrzahl sprach. Er hatte sich selbst zu denjenigen gezählt, die es erfahren mussten. Andrade hatte ihn heute Abend rufen lassen, weil sie verwandt waren und weil er besonders begabt war, doch er wusste noch nicht, was sie und Urival diesen Winter beschlossen hatten: Wenn sie einmal tot war, sollte Andry Herr in der Schule der Göttin sein. Trotz seiner Jugend konnte die Wahl nur auf ihn fallen.
»Sie mit ihren eigenen Waffen schlagen, wer auch immer sie sind?«, fragte Andrade ihn jetzt. »Mit Methoden, die unsere Vorfahren lieber vergessen wollten? Mit gefährlichen und verbotenen Methoden?«
Andry stand geschmeidig auf, und als er auf sie hinabblickte, hatte er nichts Jungenhaftes mehr an sich. Jetzt glich er seinem Vater: Willensstärke, Klarheit und Zweckdenken machten sein Gesicht reifer. Aber Andrade sah mit einem Mal nicht nur seinen Vater, sondern auch seinen Großvater in ihm, sah Zehavas unwiderstehlichen Drang, Besitz zu ergreifen. Zehava wollte Land und die uneingeschränkte Herrschaft darüber; Andry wollte Wissen. Beides war gefährlich.
Andrys Augen sprühten vor Ehrgeiz, als er sagte: »Was meint Ihr, wie haben unsere Vorfahren zuallererst gewonnen?«
Urival unterdrückte einen Aufschrei, doch Andrade blieb äußerlich ganz ruhig.
»Weiter«, sagte sie.
»Ihr sagt, dass sie Dorval vor langer Zeit verlassen haben und hierherkamen, um sich in den Lauf der Welt einzumischen. Warum? Es kann ihnen nicht um die Macht gegangen sein, denn sie haben sich nicht zu Prinzen gemacht, und wir haben uns nie in die Belange der Prinzenreiche eingemischt.« Bis vor Kurzem , sprachen seine Augen, bis du kamst, Tante Andrade. »Deshalb haben sie es nicht für sich selbst getan, sondern für das Volk. Weil sie gebraucht wurden. Und trotzdem haben sie einen Teil des Wissens auf Dorval zurückgelassen. Warum wollten sie es uns nicht überliefern? Und noch wichtiger: Warum wollten sie uns nicht wissen lassen, wie man Sternenlicht benutzt, die ›Hexenkunst‹ , um die es in dieser Schriftrolle geht? Heute Nacht haben wir erfahren, dass andere wissen, was die Lichtläufer der Vergangenheit der Vergessenheit anheimgeben wollten. Ist es völlig abwegig, dass es jene Menschen sind, die unsere Vorfahren hier bekämpft haben?«
»Aber warum sollten wir überhaupt die Methoden unserer Feinde kennenlernen? Wissen will benutzt werden – wozu lernt man es sonst? Sie
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