Mondlaeufer
Schriftrollen an einem Ort verwahrt hatte, den nur er kannte, kehrte er in ihre Gemächer zurück. Andrade saß auf ihrem Bett. Ihre langen, silberblonden Zöpfe waren schon gelöst, und ihr Haar umfloss sie wie ein blasser, bauschiger Umhang. Sie hatte ein Nachthemd angezogen, schien jedoch zu unruhig, um auch wirklich zwischen die Laken zu schlüpfen. Urival hatte sie in den letzten zwei Jahren immer öfter so gesehen. Die Angst um ihre Gesundheit gab ihm jedes Mal einen Stich in die Brust. Er schlug die Decken zurück und half ihr ins Bett. Ihm fiel auf, wie leicht und gebrechlich sie geworden war. Er löschte die Kerzen und ging dann leise zur Tür.
»Nein. Bleib hier.«
Bei jeder anderen Frau hätte solch ein Befehlston selbst das liebevollste Herz verletzt. Bei ihr war diese Aufforderung so nah an einer Bitte, wie es ihr Stolz gerade noch erlaubte. Urival erschrak.
»Wie du wünschst.« Er zog sich aus bis auf sein langes Unterkleid und legte sich auf die Decken. Dann zog er die Oberdecke vom Fuß des Bettes heran, um sich darin einzuwickeln. Er berührte sie nicht, sondern wartete einfach ab, während das Licht vom Kamin her weiche Schatten durch den Raum tanzen ließ.
»Wenn es Maarken wäre und nicht Andry, hätte ich keine Sorge«, sagte sie endlich. »Sein angeborener Sinn für Ehre ist so stark wie der von Chay oder Rohan. Aber Andry ist mit falscher Klugheit gestraft. Warum müssen alle meine Verwandten so intelligent sein?« Sie seufzte. »Er ist irgendwie anders als sein Vater, sein Onkel oder seine Brüder. Vielleicht hat er es von Zehava.«
»Oder vielleicht sogar von dir.«
»Ja, ich war auch immer so furchtbar schlau, nicht wahr?« Sie lachte unfroh. »Andry wird vielleicht noch gefährlicher sein als ich. Und ich bete zur Göttin, dass ich keinen Fehler mache, wenn ich ihn für den Fall meines Todes zum Herrn über diesen Ort bestimme.«
»Er ist jung. Er wird noch viel lernen.«
»Und du wirst da sein, um ihn zu unterweisen.«
»Falls ich dich überlebe«, gab er so leichthin zurück wie möglich. Er mochte sich nicht vorstellen, in einer Welt ohne sie leben zu müssen. »Außerdem gibt es da noch Rohan, seine Eltern – und unterschätze nicht Maarkens und Sorins Einfluss. Andry liebt seine Brüder über alles.«
Sie drehte sich unter den Decken um, und ihre Finger schlossen sich um seine. »Wir schlafen nicht zum ersten Mal in einem Bett«, bemerkte sie, »weißt du noch?«
»Natürlich. Ich wusste immer, dass du diejenige warst, die mich zum Mann gemacht hat.«
»Ich mache ganze Arbeit«, erwiderte sie, diesmal mit echtem Lachen in der Stimme. »Ich musste ja dazu Kassia ausstechen. Entweder sie oder ich! Ich glaube nicht, dass sie mir das je verziehen hat.«
»Ich hätte es dir nie verziehen, wenn sie es gewesen wäre.«
»Aber wie hast du es gemerkt? Niemand sonst hat es je gewusst.«
Er verriet ihr nicht, dass sie die Zauber der Göttin nicht so sorgfältig gewoben hatte, weil es um ihn gegangen war. Noch fünfundvierzig Jahre später erkannte sie nicht, dass sie es ihn hatte wissen lassen wollen. »Ein Geschenk der Göttin«, gab er zurück und meinte es auch so.
»Und all die Nächte hinterher. Du musst mich erkannt haben. Als Wiederholung der Erfahrung. Hat Sioned je gewusst, dass du es warst?«
»Vielleicht hat sie es erraten. Ich weiß es nicht. Aber ich muss sagen, ich hätte gern einmal Rohans Dankbarkeit erfahren. Ich mache nämlich auch ganze Arbeit.«
»Eingebildeter alter Wüstling.« Sie rückte näher, und er legte den Arm um sie. »Sie waren füreinander geschaffen. Ob es Maarken und Hollis auch so gehen wird, was meinst du?«
»So gut, wie es uns beiden all die Jahre ging!« Er küsste sie sanft auf die Stirn. »Und wir sind beide noch nicht so alt, dass wir es morgen früh, wenn wir ausgeruht sind, nicht mal wieder probieren könnten.«
»Wie schamlos!«
»Das hast du mich gelehrt«, antwortete er lächelnd. »Und jetzt schlaf.«
Kapitel 6
Normalerweise hatte Sioned keinen Grund, ihrem Gatten etwas zu verschweigen oder seine Gegenwart zu meiden. Wie kann man auch sein zweites Ich täuschen oder meiden. Doch in den Tagen, seit sie Meath gerettet und so unerwartet den Drachen gestreift hatte, hielt sie beides für notwendig.
Die Sorge um Pol und Tobin, denen es schlecht bekommen war, so viel Energie zu verlieren, hatte Nachmittag und Abend in Anspruch genommen. Als sie endlich sicher war, dass beide ruhig schlafen würden und keinen Schaden genommen
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