Mondlaeufer
weil er Hoheprinz war, sondern weil er ein Mann war, dem weibliche Körper gefielen. Mehr als alles andere, was sie heute Nacht gehört und gesehen hatte, ließ dieser Ausdruck in Masuls Augen in ihr allmählich die Überzeugung reifen, dass er wirklich Roelstras Sohn sein könnte.
Kiele verweilte kurz in der dunklen Kühle ihres Gartens und sah hinauf zu den erleuchteten Fenstern mit den dünnen blauen, grünen und roten Vorhängen. Hinter einigen bewegten sich Schatten, und plötzlich fiel weißgoldenes Kerzenlicht aus einem Zimmer im vierten Stock, als die Seide zur Seite gezogen wurde. Kiele erstarrte und huschte dann hinter einen Baum. Sie atmete heftig und versuchte mühsam, ihr Herzklopfen unter Kontrolle zu bringen. Aber warum sollte sie nicht in ihren eigenen Gärten herumspazieren? Trotzdem blieb sie, wo sie war, bis das Licht wieder von grünen Vorhängen gefiltert wurde. Als sie wieder normal atmete, ging sie leise ins Haus zurück.
Im Hauptflügel fand sie die Dienerschaft in heller Aufregung vor. Sie ließ ihren Umhang auf den Teppich fallen, damit ihn jemand aufheben konnte, und warf erst einmal einen kurzen Blick in den Spiegel, um den Sitz ihres Haares und ihres Kleides zu kontrollieren. Dann wollte sie den Grund für diesen Aufruhr erfahren.
»Prinzessin Chiana, Herrin – sie ist gerade eingetroffen und …«
»Prinzessin? Wer hat Euch geheißen, sie so zu nennen?«, fuhr Kiele ihn an. »Keine Sorge, ich weiß es schon. Ihre verdammte Arroganz! In meinem Haus ist sie Lady Chiana, und jeder, der sie in meiner Gegenwart oder sonst wo als Prinzessin anredet, kann auf der Stelle gehen! Wo steckt sie?«
»Beim Herrn, im dritten Zimmer, Herrin.«
Kiele marschierte in Richtung Haupthalle und brauste wieder auf, als sie dort Chianas Gepäck auf dem Boden verstreut vorfand. Sie befahl, dass es in die für ihre Schwester vorbereiteten Zimmer zu bringen sei, und sagte sich, sie würde schon früh genug Gelegenheit haben, es diesem Weibsstück heimzuzahlen. Vorerst jedoch würde sie ihr sehr zuvorkommend begegnen. Deshalb bemühte sie sieh um eine entspannte Miene und brachte sogar ein Lächeln zu Stande, als sie an die Demütigung dachte, die Chiana beim Rialla bevorstand.
Zimmer drei war der größte und am besten eingerichtete Raum des Hauses und daher dem Empfang wichtiger Gäste vorbehalten. Die verschiedenen Häuser, aus denen die Residenz bestand, machten hier und dort einige Stufen notwendig, und die breite Treppe, die in den Raum hinunterführte, bot Gelegenheit für einen planvollen Auftritt. Kiele hatte es gern, dass diese fünf Stufen es ihr ermöglichten, innezuhalten, umherzublicken und alle Augen auf sich zu lenken. Doch als sie jetzt den Raum betrat, in dem Chiana und Lyell bei dampfenden Teetassen saßen, hielt sie sich nicht damit auf.
Lyell erhob sich, Chiana jedoch nicht. Kiele verbarg ihren Ärger darüber, dass ihre Schwester ihr nicht die gebührende Ehrerbietung erwies. Sie lächelte freundlich und goss sich etwas zu trinken ein. Dann setzte sie sich neben Chiana.
»Wie früh du kommst, meine Liebe! Aber um so willkommener. Wie war die Reise?«
Die beiden Frauen tauschten eine Weile Höflichkeiten aus, und Kiele gewann ihre gute Laune zurück, als sie sich das Zusammentreffen von Chiana und Masul ausmalte. Beide beobachten zu können würde eine ausgezeichnete Unterhaltung für den ganzen langen Sommer abgeben.
Chiana war eindeutig und augenfällig eine Tochter von Roelstra und Palila. Beiden verdankte sie ihr gutes Aussehen, sodass sie mit ihren knapp einundzwanzig Jahren nun wirklich so schön war, wie man früher nur hatte ahnen können. Ihr volles, kastanienbraunes Haar umrahmte in schweren Locken ein Gesicht mit haselnussbraunen Augen mit erstaunlich langen Wimpern. Sie war kleiner als ihre Eltern, jedoch perfekt proportioniert, was durch ein enges Mieder und die schmale Taille ihres Kleides noch betont wurde. Kiele bemerkte, dass es Lyell schwerfiel, seinen Blick von den vollen Kurven loszureißen, die sich unter dem Mieder abzeichneten. Sie nahm sich heimlich vor, ihn in der Nacht zu verführen. Denn noch wollte sie nicht, dass er in fremde Betten kroch – und bestimmt nicht in das von Chiana.
Natürlich kamen sie bald auf ihre Schwestern zu sprechen. »Naydra ist dick und selbstgefällig«, sagte Chiana verächtlich, »obwohl sie Narat bisher nicht einmal einen Sohn schenken konnte. Von den anderen habe ich ziemlich lange nichts gehört. Weißt du etwas
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