Mondlaeufer
Gärtner die jungen Blumen gebeutelt. Doch bald würde es sicher schöneres Wetter geben. Er stand von seinem Bett auf, ging zu den Fenstern und schob die grünen Seidenvorhänge beiseite, um einen Blick auf den Himmel zu werfen.
Die Gestalt unten im Garten war leicht zu erkennen; Kiele trug stets einen großen, diamantbesetzten Goldring an ihrer rechten Hand, und der blitzte noch im schwächsten Licht. Riyan hob erstaunt die Brauen, als sie in den Schatten eines Baumes glitt. Warum versteckt sie sich?, dachte er. Dann ließ er den Vorhang achselzuckend wieder fallen und ging zurück zu seinem Bett.
Auf der Decke ausgestreckt, versuchte er an Jayachin zu denken. Doch was er eben von Kiele gesehen hatte, ergab wie so viele Beobachtungen seit der Abreise von Prinz Clutha einfach keinen Sinn. Die vielen persönlichen Briefe von Kiele – manche an ihre Halbschwester Moswen, andere an eine Frau in Einar – waren auffällig. Manchmal verschwand sie den ganzen Tag und sagte hinterher, sie wäre in der Stadt einkaufen gewesen – doch sie brachte nie irgendwelche Pakete mit. Das eine oder andere Mal war er ihr aus reiner Neugier gefolgt und hatte dabei ihre bemerkenswerte Geschicklichkeit kennengelernt, ihm über Seitenstraßen zu entkommen. Und das Erstaunlichste von allem war ihre Einladung, Chiana solle doch den Sommer in Waes verbringen.
Jeder wusste, wie sehr Kiele ihre jüngste Schwester hasste, Chianas Ankunft war an diesem Abend auch der Grund gewesen, warum Riyan nach oben verschwunden war. Er wusste, er hätte bleiben und sie mit Kiele zusammen beobachten sollen, doch Chiana machte ihn kribbelig. Zweifellos war sie eine Schönheit und gewiss auch charmant, wenn und wann es ihr gefiel. Doch wie sie Lyell umschmeichelte, war für Riyan einfach abstoßend gewesen.
Schließlich gestand er sich ein, dass Kieles nächtlicher Spaziergang durch die Gärten ihn doch so sehr befremdet hatte, dass er lieber seine Stiefel anzog und nach unten ging. Er kannte sich inzwischen recht gut in der exzentrischen Residenz aus und nahm höchstens jedes fünfte Mal den falschen Gang. Diesmal fand er sofort den richtigen Weg und schlüpfte in die Nacht hinaus.
Er ging zu dem Platz, wo sie gestanden hatte, und verfolgte dann ihre Spur zurück. Die Gärtner waren gerade dabei, weißen Kies auf dem Weg zu verteilen. Riyan hatte Glück, denn der Boden war erst am Nachmittag geharkt worden. Er rief eine Flamme auf seinen Finger und folgte den Spuren. Sie führten direkt zur hinteren Gartenpforte. Wieder hoben sich seine Brauen über diese Entdeckung. Sie war also nicht in den Gärten spazieren gegangen, sondern aus der Stadt zurückgekehrt. Das Tor war nicht ganz geschlossen. Er öffnete es und fuhr zusammen, als die Angeln leise quietschten. Dann stand er in der engen Gasse und fragte sich, wo sie wohl hergekommen war. Vielleicht sollte Andrade davon erfahren.
Riyan blieb stehen und wandte sein Gesicht den Monden zu, die der Wind über den Himmel trieb. Er ballte seine Hände kurz zu Fäusten, damit er die vier Ringe spürte, die ihn als Lehrling auswiesen. Er konnte es selbstständig tun, auch wenn seine Technik manchmal noch unvollkommen war. Doch jetzt standen Monde über ihm, nicht das starke, verlässliche Licht der Sonne. Eigentlich war es dasselbe. Er fragte sich, ob er es wagen sollte, und dann lächelte er.
Riyan schloss die Augen, um die zarten Strahlen des Mondlichts besser mit seinen Gedanken fühlen zu können. Sein Geist wob sie zusammen, erprobte sie und erfreute sich an ihrer leichten Geschmeidigkeit und ihrer Stärke. Es war einfacher, als man ihn hatte glauben machen wollen.
Er wob seine eigenen Farben – Granat, Perle und Karneol – in das geflochtene Mondlicht. Sie leuchteten anders als sonst und schimmerten leicht, als er das Gewebe über das dunkle Land und das sternenüberglänzte Wasser schickte. Er folgte dem glänzenden Pfad, hielt angesichts der Schönheit unter sich den Atem an und vergaß beinahe, an der Schule der Göttin Halt zu machen.
Ein Unbekannter tat heute Nacht in dem schönen Zimmer mit den drei Glaswänden Dienst, wo stets wenigstens ein Lichtläufer saß und auf Nachrichten wartete, die über das Licht kommen konnten. Die Fenster waren immer offen, wenn es nicht gerade in Strömen regnete, doch dann verhinderte die Wolkendecke sowieso jeglichen Kontakt unter den Faradh’im . Riyan tanzte regelrecht in den Raum hinein und streifte die Farben des unbekannten Lichtläufers.
Die Göttin
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