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Mondlaub

Titel: Mondlaub Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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unbewusst ans Ohr, eine Angewohnheit, die auch ihr Vater hatte. Seine Haare waren etwas zerzaust, obwohl kein Wind in dieser lauen Spätherbstnacht wehte.
    »Nein, aber ich sah die Stelle bei Mekka, wo der Prophet den Dschinn begegnet ist.«
    »Mekka«, sagte Tariq tief beeindruckt. Ehrfürchtig fragte Layla: »Dann hast du die heilige Pilgerfahrt gemacht, den Hadsch?« Muhammad blieb stehen und schaute über den Generalife hinweg auf die Berge, die im Vollmond klar zu erkennen waren; das Mondlicht ließ ihre schneebedeckten Spitzen aufleuchten wie die Dächer des Albaicin, des alten Stadtviertels, das sich tief unter ihnen befand.
    »Ja. Aber die ganze Zeit wusste ich, dass das Paradies sich hier befindet. Und dass es zum Sterben verurteilt ist.«
    »Was?«, fragte Tariq verunsichert. Muhammad zuckte die Achseln und ließ sich auf dem Rand eines Springbrunnens nieder.
    Er hob die Zwillinge nacheinander hoch, damit sie neben ihm sitzen konnten.
    »Vergiss es, ich rede nur dummes Zeug. Wo ist nun das versprochene Geschenk, ihr zwei?«
    Tariq holte aus seinem Burnus das Pergament hervor. Es handelte sich um ein Schutzamulett, das er und Layla mit einer Sure aus dem Koran beschrieben hatten, sehr sorgfältig, um nichts falsch zu machen, abwechselnd, jeder einen Vers. Solche Schutzamulette waren eigentlich nur dann wertvoll, wenn sie von einem Iman gesegnet wurden, aber die Zwillinge hatten sich darauf geeinigt, dass Muhammad es selbst segnen lassen würde, wenn es ihm gefiel.

    Sie hatten eine kleine Ansprache über die Versöhnung zwischen ihren Müttern vorbereitet, doch Tariq war so nervös, dass er Muhammad das Schutzamulett einfach nur in die Hand drückte.
    »Wir haben es selbst geschrieben«, sagte Layla hastig.
    »Dann ist es umso wertvoller.«
    Muhammad lächelte die Kinder an und las laut vor:

    »Oh, du beruhigte Seele,
    Kehre zurück zu deinem Herren zufrieden, befriedigt, Und tritt ein unter meine Diener,
    Und tritt ein in mein Paradies.«

    Er schwieg einen Augenblick und senkte den Kopf. Dann sagte er: »Ihr beschämt mich. Ihr macht mir dieses Geschenk, und ich kann mich nicht mehr an eure Namen erinnern, so sehr ich es auch versuche, die ganze Zeit schon.«
    »Das macht nichts«, meinte Tariq großzügig, »du warst ja zwei Jahre weg. Ich bin Tariq, und das ist Layla.«
    »Weißt du«, unterbrach Layla ihn, weil ihr die vorbereitete Rede wieder eingefallen war und Tariq sie offensichtlich nicht halten würde, »wo wir doch jetzt Freunde sind - wir haben gedacht - deine Mutter und unsere Mutter - wir könnten die beiden auch versöhnen - und dann ist alles wieder in Ordnung.«
    Es war nicht ganz der sorgfältig ausgearbeitete Vortrag, den sie geplant hatten; Layla geriet ins Stocken, weil Muhammad sie von Sekunde zu Sekunde immer seltsamer ansah. Er blickte zu Tariq, dann wieder zu ihr.
    »Ihr seid«, sagte er schließlich mit fremder Stimme, »ihr seid - ihre Kinder?«
    Unwillkürlich rückte Layla ein wenig von ihm ab und wäre dabei beinahe in den Brunnen gefallen. Er hielt sie fest, aber der Griff war hart, als wollte er ihr Schmerz zufügen.

    »Ihre Kinder?«, wiederholte er. Tariq streckte die Hand nach ihm aus, berührte ihn an der Schulter. »Wir haben gedacht…«, begann er. Muhammad ließ das Mädchen los und schlug Tariqs Hand weg. Er sprang auf und starrte die Zwillinge an. Dann ließ er das Schutzamulett auf den Boden fallen, absichtlich, ließ es langsam aus der Hand gleiten. Er drehte sich um und ging fort, zuerst im Laufschritt, aber bald rannte er.
    Die Zwillinge konnten sich lange Zeit nicht bewegen. Dann rutschte Tariq vom Rand des Springbrunnens herunter auf den Boden und trat auf das Amulett, trampelte darauf herum, erst stumm, dann keuchend, und Layla bemerkte, dass er weinte. Ihr fehlten die Tränen, aber sie hatte ebenfalls das Bedürfnis, etwas zu zertreten, also sprang sie. Sie stürzte auf die Knie. Es schmerzte, ein kurzes heftiges Brennen; sie schlug mit ihren Fäusten auf den Boden, bis Tariq ihre aufgeschürften Fingerknöchel festhielt.
    »Weine nicht«, flüsterte Layla.
    »Ich weine nicht«, sagte Tariq. »Ich überlege, wie ich es Muhammad heimzahlen kann.«
    Das Echo eines Gelächters drang durch den Garten, wie Blätterrauschen. Layla blickte sich um, aber sie konnte niemanden sehen, und nach einer Weile dachte sie, sie hätte es sich nur eingebildet.

    Abul Hassan Ali hatte seinen Bruder gebeten, mit ihm einen Spaziergang über die Wälle zu machen. Sie verließen

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