Mondmädchen
Zwillingsbruder geachtet hatte. Mir krampfte sich der Magen zusammen. Was ging hier vor?
»Sag’s mir«, sagte ich.
»Du hast es doch sicher auch schon gehört?«, sagte er.
»Was gehört?«
»Iotape.«
Ich blickte ihn verständnislos an. Dann erinnerte ich mich an das schöne kleine Mädchen, mit dem mein Bruder in Alexandria verlobt gewesen war, die mit den glänzenden schwarzen Augen und den seidigen Haaren.
»Was ist mit ihr?«
»Sie hat König Mithridates von Kommagene geheiratet«, sagte er. »Meine Verlobte hat einen anderen geheiratet.«
»Aber … aber …« Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Hatte er sich an die Hoffnung geklammert, dass sie eines Tages doch noch heiraten würden, selbst nach all diesen Jahren?
Alexandros schluckte hart und hielt den Blick auf seine Finger im Wasser gerichtet. »Einer der Sklaven hier ist ein Meder. Er hat mir geholfen, Briefe an sie zu schicken, und hat mir Briefe von ihr überbracht. Wir haben einander nie vergessen. Wir wollten einen Weg finden, um wieder vereint zu sein. Wir wollten weglaufen und zusammen ein einfaches Leben führen …« Er sprach nicht weiter, in seiner Stimme schwangen so viele unterdrückte Gefühle mit.
Ich hatte keine Ahnung gehabt, dass mein Bruder an der Hoffnung festhielt, er und die Liebe seiner Kindheit würden eines Tages wieder vereint sein. Während ich mich nach Ägypten verzehrte, hatte er sich nach Iotape verzehrt.
Alexandros legte die Handflächen zusammen und schöpfte kühles Wasser an seine Lippen.
»Und was ist dann geschehen?«, fragte ich.
»Man hat wohl meine Briefe entdeckt. Ich hatte schon eine Weile nichts mehr von ihr gehört. Der Sklave aus Medien hat mir heute erzählt, dass ihre Familie sie zu einer frühen Heirat gezwungen hat.« Alexandros rieb sich mit den nassen Handflächen über die geschlossenen Augen. »Und deswegen«, fügte er matt hinzu, »ist es mir egal, was jetzt geschieht. Soll er uns doch erwischen und mich töten. Dann werde ich einfach im Jenseits auf Iotape warten.«
»Alexandros, bitte sag nicht so etwas.«
Er hockte sich auf den Rand des Brunnens. »Was ist uns denn noch geblieben, Schwester? Warum quälen uns die Götter so? Vielleicht wollten sie wirklich alle Ptolemäer vernichten und wir zögern nur das Unausweichliche hinaus.«
»Du darfst nicht aufgeben!«
»Und was soll ich tun? Wir haben das Wohlwollen, das Octavian aufbringen musste, um uns am Leben zu lassen, schon lange verbraucht. Dich kann er an irgendjemanden verheiraten, aber mich nicht. Mich will kein römisches Mädchen haben. Was soll ich also tun? Dir hinterherlaufen, wenn er dich an einen fetten alten Römer verheiratet? Wie ein Anhängsel bei dir leben, ohne Dignitas , ohne Eigenständigkeit?«
Ich hatte nie darüber nachgedacht, wie all dies für ihn war. Und auch nicht darüber, dass seine Zukunft sogar noch eingeschränkter war als meine.
»Alexandros, bitte, gib nicht auf. Ich … ich habe einen Plan!«
Er blickte mich wehmütig an.
»Mit Marcellus«, sagte ich.
»Was kann der schon tun?«
»Er ist an mir interessiert.«
»Kleopatra Selene, er ist an allem interessiert, was sich bewegt.«
»Trotzdem. Vielleicht kann ich ihn überzeugen, dass er …«
»Was tun soll, Schwester? Hast du immer noch nicht begriffen, dass du niemandem aus dem Haus der Octavier trauen kannst?«
»Aber wenn es eine Chance gibt … wenn es irgendetwas gibt, das ich tun kann, um ihn davon zu überzeugen, dass er uns dabei unterstützt, nach Ägypten zurückzukehren …«
»Du willst also den Nachfolger des mächtigsten Mannes von Rom nur deswegen verführen, weil es unter Umständen eine entfernte Möglichkeit gibt, dass er uns vielleicht helfen könnte, nach Ägypten zurückzukehren?«
Ich verschränkte die Arme. Wenn er es so formulierte, dann klang es ebenso abgeschmackt wie hoffnungslos.
»Das hat Mutter bereits versucht. Und du siehst ja, wohin es sie geführt hat«, höhnte Alexandros und wandte sich zum Gehen. Dann fügte er über die Schulter hinzu: »Und uns.«
~ Kapitel 42 ~
Der goldene Stoff glitt an meinem Körper hinab wie Wasser, glatt und glänzend, und legte sich unter meiner Brust in ägyptische Falten. Das hat einmal ihren Körper berührt , dachte ich, während ich mit der Hand über Mutters Kleid fuhr, das Zosima so viele Jahre heimlich für mich aufbewahrt hatte.
Zosima kämmte mir die Haare und ich schloss die Augen und dachte an Alexandros. Mir erschien es absurd, dass er wirklich
Weitere Kostenlose Bücher