Mondmädchen
einflößte.
Anubis wandte sich wieder zu mir. »Vergiss nicht«, sagte er. »Du musst mich rufen, um die Söhne Ägyptens zu retten.«
Aber wer würde mich – die Tochter Ägyptens – retten? Bevor ich noch etwas sagen konnte, blinzelte er mit seinen großen dunklen Augen und fing an, sich in schwarzen Rauch aufzulösen.
Amut verweilte noch. »Ich muss meinem Meister folgen«, knurrte der Dämon und blies mir dabei seinen heißen, stinkenden Atem ins Ohr. »Aber nicht, ohne dir noch ein Geschenk dazulassen.« Er kicherte unheimlich. »Ich habe die Seelen deiner mordlüsternen Vorfahren zum Leben erweckt, deren Herzen ich verschlungen habe. Die Armen konnten nicht in das glückliche Aaru gelangen. Jetzt sind sie hier und du wirst für ihre Sünden bezahlen. Lass nicht zu, dass sie dich jetzt berühren!«
Amuts Lachen wurde langsam immer leiser und leiser. Ich hörte das Gemurmel von Stimmen, Männer und Frauen – einige wütend, andere stöhnten. Ich rollte mich noch enger zusammen, während die Angst mir die Luft zum Atmen nahm. Wie viele meiner Vorfahren waren wohl an Anubis’ Prüfungen gescheitert? Ich dachte an die frühen Ptolemäer und an die vielen Morde, die sie im Namen der Macht begangen hatten, an die Gerüchte, dass Mutter ihren eigenen Bruder und ihre Schwester ermordet hatte in dem verzweifelten Versuch, sich den Thron zu sichern. Ich schüttelte den Kopf. Es konnte nicht wahr sein.
Aber ich konnte nicht verleugnen, was ich im Geschichtsunterricht gelernt hatte. Mein königliches Geschlecht wimmelte nur so von Mördern, Lügnern und Verrätern. Meiner griechischen Erziehung zufolge, würden wir, ihre Nachkommen, für ihre Sünden bestraft werden. Das Gemurmel und die Stimmen wurden immer lauter und ich zitterte, weil es so ungerecht war. Warum sollten die Götter mich bestrafen für Verbrechen, die vor vielen Generationen begangen worden waren? Ich drückte mein Gesicht auf den Boden und atmete den Staub der Knochen meiner Vorfahren ein.
Isis, bitte halte diese ruhelosen, alles verschlingenden Geister von mir fern , flehte ich. Doch die rachelüsternen Geister kamen immer weiter auf mich zu. »Isis, bitte«, bat ich nun laut. »Rette mich!« Hatte Amunet sie nicht als meine »Retterin« bezeichnet?
Ich spürte es, noch bevor ich es sah – ein warmes, golden leuchtendes Licht. Die Göttin in all ihrer Pracht war gekommen. Sie war gekommen! Mein Herz jubelte bei ihrem Anblick. Zunächst schwebte sie über mir und sah so aus – gold glänzend – wie Mutter bei vielen religiösen Feierlichkeiten. Dann verwandelten sich ihre Gesichtszüge in die der Isis-Statue auf Pharos.
»Isis, große Mutter«, flüsterte ich, »beschütze mich vor den bösen Geistern.«
Sie starrte weiter nur in die Ferne. Warum beachtete sie mich nicht? »Willst du mich strafen?«, fragte ich.
»Bald mag es so scheinen, aber wisse, dass ich dich nicht strafen will.« Ihre Stimme war so kühl und beruhigend wie der Wind, der vom Nil her wehte. »Meine Zeit hier ist kurz«, sagte sie.
»Nein, bitte verlass mich nicht. Bleib bei mir, bitte …«
Ihr Gesichtsausdruck war so voller Kummer und Liebe und Traurigkeit und Glück, dass mir das Herz wehtat. »Man wird mich fortschicken«, sagte sie. »Sie werden meine Tempel entweihen und mich für ihre neuen Götter verlassen.«
Ich spürte, wie die Wut in meiner Brust aufstieg. Warum redete sie nur von sich selbst? Merkte sie denn nicht, dass ich ihre Hilfe brauchte? »Bitte rette mich vor Amut«, betete ich. »Sag mir, was ich tun soll!«
Die Göttin nahm ihren goldenen Umhang und bedeckte ihren Kopf damit in einer Geste der Trauer. »Vergiss mich nicht, meine Tochter. Das ist der einzige Weg.«
»Aber warum vergisst du mich?« Ich schluchzte, weil sie mich so im Stich ließ. Ich war doch ihre Tochter! Ihre treue Dienerin. Begriff sie denn nicht, wie sehr ich mir wünschte, wie sehr ich es brauchte , dass sie mich aus diesem dunklen Ort herausholte und ans Licht brachte?
Ich muss diese Worte laut ausgesprochen haben, denn die Göttin wandte sich zu mir. Noch immer mit bedecktem Kopf lachte sie leise, ein ebenso melodischer wie trauriger Klang. »Diejenigen, die mich zerstören, werden auch behaupten, dass sie aus der Dunkelheit gekommen sind. So werden sie sich rechtfertigen.«
Ich begriff nicht. Machte sich die Göttin über mich lustig? Verzweiflung überkam mich.
»Meine arme, kleine Tochter«, murmelte Isis. Ich blickte überrascht auf und sah, dass sie den Umhang
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