Mondmädchen
hinüber. Gedämpft, aber klagend. Die Möven? Doch dann ertönten sie wieder und ich erstarrte. Das letzte Mal, hatte ich diese Klänge gehört, als … ein Bild machte sich in mir breit. Als Tata starb, von Blut getränkt. Bei den Göttern !
Ptoli machte große Augen. »Wieder die Geister!«, murmelte er. »Ich hasse Geister!«
Alexandros und ich blickten uns an. Unsere Ammen, die endlich auch die gewundene Treppe hinaufgestiegen waren, knieten sich neben Ptoli, um ihn zu trösten. Mehr körperlose Rufe und Schreie tönten zu uns empor. Dolabella rieb sich das Gesicht und stöhnte.
»Was geht hier vor?«, flüsterte ich ihm zu. Er gab keine Antwort. Nach und nach steigerten sich die Klagerufe und Schreie, bis sie schließlich wie eine Welle über unseren Köpfen zusammenbrachen. Ich blickte über die Insel und sah, wie die Priesterinnen des Tempels der Isis Pharia und die Priester des Poseidons sich in ihren Innenhöfen versammelten, einige von ihnen weinten, andere skandierten Klagerufe.
»Kommt«, sagte Dolabella leise. »Wir müssen zur Priesterin der Isis. Es war der Wunsch eurer Mutter, dass ihr dort seid.«
Es war der Wunsch?
Ich bekam keine Luft mehr. Die Zeit schien still zu stehen und alle Geräusche verschwanden. Ich sah, wie Alexandros’ Augen sich vor Entsetzen weiteten. Ptoli ließ seinen Kuchen fallen, während er das Gesicht verzog und sich mit beiden Händen die Ohren zuhielt, wobei seine Ellbogen wie gebrochene Flügel zu beiden Seiten abstanden. Dolabella flüsterte lautlos: »Es tut mir leid.«
Und dann kamen alle Geräusche wieder zurück, und ich verstand die Rufe, die von den Wänden des Leuchtturms widerhallten – die Klagerufe eines Volkes, das den Verlust seiner geliebten Königin beweint.
Es war, als wäre in meiner Seele die Tür einer Grabkammer zugefallen.
Ich hatte es in dem Augenblick natürlich nicht bemerkt, aber am Abend zuvor hatte Mutter sich von uns verabschiedet. Caesarion war ihre letzte Hoffnung zur Flucht und zum Überleben gewesen. Sie hatte durchgehalten, so lange sie noch glaubte, sie könnte uns zu ihm bringen. Aber der Mord an ihm hatte diese Hoffnung zunichtegemacht. Und als Dolabella ihr verraten hatte, dass Octavian plante, uns alle in den nächsten Tagen per Schiff nach Rom zu bringen und sie dort in Ketten durch die Straßen zu treiben, bevor er sie hinrichtete, wie es das römische Recht verlangte – da nahm sie den einzigen Ausweg, der ihr noch blieb. Den einzigen, der, wie Tata gesagt hätte, ihre Ehre bewahrte.
Und doch versetzte der Schock ihres Selbstmordes meinem Innersten einen derartigen Schlag, dass große Teile meiner Erinnerung wegbrachen wie die Einzelheiten eines Albtraums, die im Nebel verschwinden, bis letztlich nur das Entsetzen übrig bleibt.
Nur einige Bilder prägten sich mir unauslöschlich ein: Alexandros’ glasiger Blick, mit dem er stundenlang ins Leere schaute. Ptoli, der plötzlich wieder den Daumen in den Mund steckte, obwohl er diese Angewohnheit schon lange abgelegt hatte. Der Wind, der durch den fast verlassenen Palast wehte und in leisen Klagelauten widerhallte. Zosima erzählte mir später, dass ich tagelang kein Wort gesprochen hätte.
Schließlich fand ich ein wenig Trost zwischen den Habseligkeiten meiner Mutter, indem ich mich auf ihrer Liege zusammenrollte, die nach ihr roch, oder mich in ihren Mantel hüllte, der wie Meeresschaum glitzerte, oder mit ihrer Katze Hekate herumschmuste. Das kleine, sandfarbene Tier in Mutters Gemächern zu besuchen, wurde für mich zu einer besonderen Zuflucht – Hekates Herz schlug noch immer; ihr glänzendes Fell roch noch immer nach Mutter und ihr Schnurren war wie das Echo von Mutters leisem Lachen.
Eines Tages war sie nirgendwo zu finden. Ich suchte unter allen Liegen und Stühlen, in kleinen Körben und dunklen Ecken. Ich rief nach ihr, doch sie tauchte nirgends auf.
»Suchst du nach etwas, das deine Mutter versteckt hat?«, fragte Octavian, der in ihre Schlafkammer kam. »Ich würde es ihr durchaus zutrauen, dass sie etwas gestohlen hat, das rechtmäßig mir zusteht.«
Beim Klang seiner Stimme zuckte ich zusammen. Wie konnte er es wagen, Mutter des Diebstahls zu bezichtigen, wo doch er derjenige war, der alles an sich gerissen hatte, was ihr gehörte? Ich schluckte. »Nein, ich suche nach Hekate, Mutters Katze … Ich kann sie nirgends finden und …«
»In diesem verdammten Palast gibt es zu viele Katzen«, unterbrach mich Octavian und hob dabei eine Bronzeskulptur von
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