Mondschwingen (German Edition)
kannte, war nicht stur
und hirnverbrannt.
„Du musst mich verstehen.“ Er seufzte und
blieb stehen. „Ich habe so viele
Erinnerungen an das Bernsteinfest.“
„Und es wird dir das Leben kosten, wenn du
nicht vernünftig bist.“ Linus kam sich altklug vor, er hörte sich wie ein Vater
an und Mortis wie ein Sohn. „Wenn es stimmt, was du sagst, dann werden dich die
Leute genauso hassen wie mich.“
Mortis lächelte traurig. Das tat er fast
nie, entweder war er traurig oder er war froh, aber wenn er traurig lächelte,
dann hatte er ein schlimmes Geheimnis. Das letzte Mal, das er so geschaut
hatte, war kurz bevor er von Marvas Tod erzählt hatte.
„Es ist mehr als das, nicht wahr? Du hast
ein Geheimnis.“
Das Lächeln verschwand. „Vielleicht. Ich
weiß nicht so recht.“ Er wandte sich um und ging zum Ende des Friedhofs. Zwei
Trauerweiden lehnten sich gegeneinander und bildeten ein bogenförmiges Tor. In
einem der zwei Bäume saß ein Tränensänger, er weinte ganz leise und starrte mit
trüben Augen ins Dunkle. „Ich bin mir nicht sicher, ob es ein Geheimnis ist.
Solange ich mir nicht sicher bin, will ich dir nichts davon erzählen. Aber wenn
ich wissen will, ob es eines ist, dann muss ich heute zum Bernsteinfest.“
Dass er sich so rätselhaft ausdrückte
machte die Sache nur noch schlimmer.
„Warte hier auf mich. Wenn ich nicht
wiederkomme, lauf ohne mich los. Warte nicht zu lange.“ Mortis hatte sich schon
umgedreht, so schnell, als hoffte er auf keine Antwort.
„Ich komme mit“, rief Linus und folgte ihm
rasch. Mortis blieb nicht stehen.
„Es ist gefährlich“, brummte er und lief
ein bisschen schneller. „Sie werden dich erkennen.“
Linus sagte nichts und während sie
weiterliefen, schaute ihnen der Vogel in der
Trauerweide hinterher und jammerte leise. Denn es war ein Abschied für immer.
Das Wasser klopfte gegen die Bootswand, als
der Seekralster zu schwimmen begann. Die Zügel waren um seinen Hals gebunden,
das Licht der Laternen spiegelte sich in seinen Schuppen. Gemächlich zog er das
Boot über den See, die Laterne am Bug schwebte nur ein kleines Stück über dem
dunkelroten Wasser.
Überall hüpften und zuckten die Lichter auf
dem Wasser, wie unruhige Tanzende, in flammende Kleider gehüllt. Wenn Linus die
Augen zusammenkniff, schien es fast, als brenne der See.
Im Nachbarboot zankten drei Kinder
miteinander, sie schrien und rauften sich die Haare, der bärtige Vater sah
entschuldigend zu Mortis herüber.
Unwillkürlich zog er die Kapuze weiter ins
Gesicht und schaute rasch zum Ufer.
„Es muss ein wirklich großes Geheimnis sein.“
Linus zog demonstrativ die eigene Kapuze vom Kopf. „Willst du es mir nicht
verraten?“
„Ich
hab dir doch schon gesagt, dass ich mir nicht sicher bin.“ Mehr sagte er nicht
und so beschloss auch Linus, leise zu sein und nur die Burg auf dem Felsen anzugucken.
Mit Lichtern war sie bespickt, Fackeln zitterten hinter Zinnen, Kerzen hinter
Fenstern. Sogar die ersten Feuerspucker waren von hier aus schon zu sehen, vier
konnte man in den Schatten ausmachen.
Jedes Jahr waren es mehr Künstler, die zum
Bernsteinfest kamen, Spielmänner und Geschichtenerzähler wie Mortis, Seiltänzer
und Taschenspieler, falsche Zauberer und echte Bären, an dicken Ketten
gebunden, damit sie nur ein bisschen tanzen konnten. Es war ein Sammelsurium an
Absurditäten, überall sah man buntgekleidete Gestalten, die nur darauf warteten
ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen.
Den See hatten sie fast schon überquert, die
Boote drängten sich immer dichter aneinander. Die drei Kinder im Nachbarboot winkten
Linus zu, ihre Arme streckten sich nach seinen aus, doch er blieb still sitzen
und lächelte nur.
Vor ihnen war eine Flussmündung, links und
rechts standen große Skulpturen, die mit blauen Saphiraugen auf die Gäste herabschauten.
Jetzt, das wusste Linus, gab es kein Zurück
mehr.
Langsam kroch das Boot voran, ließ den See
hinter sich und schob sich an den Bäumen vorbei. Baumgeister saßen in den
Kronen und sangen leise Lieder.
„Wo
werden wir hingehen? Wo können wir uns verstecken?“
„Ich weiß nicht.“ Mortis lächelte qualvoll,
sein starrer Blick verlor sich in der Dunkelheit hinter den Bäumen. Auch ihm
tat es weh, gehen zu müssen, gerade ihm. „Du solltest zur Fliegenden Burg gehen,
dort bist du am sichersten. Und ich“, flüsterte er „ich
Weitere Kostenlose Bücher