Mondschwingen (German Edition)
großzügig war und nichts gegen ihre Flucht
unternahm. Er musste nicht, denn er hatte bereits vorgesorgt. Zwanzig
Bogenschützen standen im Halbkreis am anderen Kanalufer und warteten mit
gespannten Sehnen auf ihre Opfer.
„Ein einziger Befehl“, verkündete Kastja
„und ich beende dieses Elend. Ein Befehl und ihr seid um zehn Pfeile reicher.
Wunderbar, nicht wahr? Allerdings auch ein bisschen schmerzhaft, möchte ich
meinen.“ Er seufzte und zuckte bedauernd mit den Schultern. „Wenn ihr noch
weiterleben wollt, dann macht jetzt keinen Schritt mehr, sagt mir, dass ihr
bereitwillig in Gefangenschaft leben werdet. Und dass ihr uns alle
Informationen liefert, die wir benötigen. Was danach passiert, weiß ich nicht.“
Er grinste breit, der Dolch in seiner Hand erstarrte. „Ihr könnt entscheiden:
sterben oder weiterleben!“
Sie sagten lange nichts, das Wasser vor
ihren Füßen war zum Greifen nah, nur ein Sprung, ein klitzekleiner Sprung. Doch
allein schon der war lebensgefährlich. Ein Schritt, hatte Kastja gesagt, ein
einzelner Schritt.
„Du bist sehr mutig, Junge.“ Kastja näherte
sich ihnen vorsichtig. „Und dennoch bin ich der Meinung, dass du mehr Glück als
Verstand hast. Denke dieses eine Mal noch nach, dieses eine Mal hast du noch
die Chance weiterzuleben. Denke nach!“
Das tat er. So sehr, dass er Kastja gar
nicht hörte. Die Säulen neben ihm wackelten, die Bogenschützen wankten, die
Pfeile bewegten sich hinauf und hinab – alles um ihn herum zerfloss zu einem
Mosaik aus tausend Farben. Nur ein Schritt, nur ein einzelner Schritt.
„Versuch in eine der Lücken zwischen den
Booten zu springen“, raunte ihm Mortis zu, seine Lippen bewegten sich kaum.
Das Bild vor Linus‘ Augen setzte sich
wieder zusammen, das wilde Pochen zwischen seinen Rippen wurde ein bisschen langsamer.
Er musste die erste Bootsreihe überwinden, um in die Lücke zu gelangen, doch
seine Beine würden ihm sicherlich kein bisschen mehr gehorchen.
„Ich muss sagen, dass die ganze Warterei
allmählich öde wird.“ Kastja war nun so nah, dass Linus nur die Arme
ausstrecken musste, um ihn zu berühren. „Die Gäste hier haben sich ein wenig
mehr Spannung erhofft, denke ich. Tretet vom Wasser weg oder sagt Auf
Wiedersehen.“
Mortis umfasste Linus’ Hand, drückte zu. Jetzt ,
schien er ihm zuzuflüstern, jetzt oder nie .
Linus sprang.
Die Welt bestand nur noch aus diesem einen
Sprung, aus der alles erfüllenden Hoffnung, die Lücke zu treffen. Wenn es ihm
und Mortis nicht gelang, war es ohnehin zu spät. Sie wären schneller mit
Pfeilen bespickt, als ein verletztes Reh.
Dann das Wasser. Wasser und sonst nichts.
Mortis’ Hand verschwand auf einmal, wurde aus der von Linus gerissen, ganz
abrupt, ganz plötzlich. Er schaute zurück, während er weiter fiel, zum
steinernen Boden des Kanals.
Mortis war nicht weit entfernt, Pfeile
durchdrangen die Oberfläche und schossen an ihm vorbei. Einen Moment lang
glaubte Linus eine schwarze Wolke aufsteigen zu sehen, eine wallende, wabernde
Wolke, die aus Blut bestand. Dann hatte Mortis ihn aber schon mit wenigen
Schwimmstößen erreicht und zusammen tauchten sie weiter.
Die Stille, die hier unten herrschte,
umschloss sie beide. Über ihnen waren Stimmen zu hören, ganz dumpf. Während die
Luft in Linus‘ Lungen schrumpfte, blitzte in ihm einen Moment lang die
Gewissheit auf, dass all das zum Scheitern verdammt war. Wie konnte eine
Geschichte wie diese ein gutes Ende finden?
Im selben Augenblick kamen dunkle Schemen
zu ihnen hinab. Mortis zog ihn weiter, strampelte und zerrte. Und da plötzlich
verschwand seine Hand und stattdessen kam da eine andere, eine kräftigere.
Linus schaute sich um, sah schwarze Augen, umrahmt von noch dunkleren Haaren.
Vorbei, dachte er, alles vorbei.
Als er die Augen aufriss, sah er erneut in das
blasse Gesicht.
Linus schnappte nach Atem, seine Finger
krallten sich in nassen Fels. Er hustete, richtete sich auf und spuckte Wasser.
„Du hattest Glück“, murmelte der Fremde und
zog Linus hinauf, obwohl seine Knie noch wacklig waren.
„Wir haben keine Zeit für Erholung. Ich
erst recht nicht.“ Er sah sich zu Mortis um, der mit weitgeöffneten Augen am
steinigen Ufer stand.
„Weg da!“, befahl der Fremde und winkte ihn
zu sich heran. „Die restlichen Sternenjäger müssten jeden Moment auftauchen.“
Dann rannte er schon los. Linus stolperte ihm
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