Mondschwingen (German Edition)
wurde und nur noch die Kerzen brannten, sah das Gewirr
aus Fäden und Seilen wie zwei mächtige Flügel aus. Mortis hatte sie Linus gerade
gezeigt - er war mit ihm zusammen hierher gelaufen und nun stand er außerhalb und
wartete auf ihn.
Am Ende des Friedhofes gab es einen Berg
voller Kerzen. Linus hatte schon eine von ihnen angezündet und sie vor Marvas
Baum gestellt. Allerdings war sie wie so viele andere in dem dichten
Schneegestöber nach kurzer Zeit ausgegangen und so sah er zwischen all dem Weiß
kaum mehr als Marvas Umriss.
„Was soll ich tun?“, wisperte er und er kam
sich ein bisschen albern vor. Mit Toten zu sprechen zählte nicht zu seinen
Lieblingsbeschäftigungen. Vor allem nicht, wenn statt einer Toten eine Puppe in
den Bäumen hing. Eine Puppe als Platzhalter für eine verlorengegangene Frau.
„Ich glaube, ich kann hier nicht länger
bleiben. Alle meine Freunde haben mich fliegen sehen. Sie wissen, dass ich eine
Mondschwinge bin.“
Er sah wieder die vielen Gesichter vor
sich. Joona, der so breit lächelte, dass ihm jeden Moment das Gesicht
zerplatzen musste. Orvill trat aus dem Wald heraus, ganz zögerlich nur, und die
Überraschung, die Enttäuschung ließ ihn ganz anders aussehen. Obwohl Joona ihn
so plötzlich gestoßen hatte, war Linus sofort in den Flug übergegangen und
hatte somit genau das getan, was Joona sich erhofft hatte.
„Es ist wohl zu spät, die ganze Sache
rückgängig zu machen. Vermutlich warten sie schon alle auf mich, hinter den
Mauern.“ Die Gestalt in den Wipfeln schüttelte sich im Wind. „Was soll ich
tun?“, fragte Linus leise in die Nacht hinein. Niemand gab ihm eine Antwort,
aber entschlossen hatte er sich ohnehin schon. Heute Nacht würde er gehen, wenn
jeder Burgbewohner auf dem Bernsteinfest war und ihn nicht sah. Nur von Mortis
wollte er sich verabschieden, von niemandem sonst.
„Ich werde gehen“, flüsterte er seiner
Mutter zu. „Noch heute.“ Kaum hatte er das gesagt, hörte er Schritte hinter
sich. Eine Hand legte sich auf seine Schulter. Mortis stand hinter ihm, sein
Gesicht war starr und ausdruckslos, er sah meistens so aus, wenn er traurig
war.
„Du hast recht!“, sagte er und kniete sich
neben ihn vor Marvas Baum. „Du kannst hier nicht bleiben. Die Leute reden
sicherlich schon und bis die ersten Sternenjäger hier sind, wird es nicht mehr
lange dauern.“
Die unumstößliche Gewissheit aus Mortis’
Mund zu hören war noch viel schrecklicher.
„Ich werde mit dir gehen“, meinte er und er
klang bestimmt. „Ich kann nicht alleine auf der Frostburg leben.“
„Es reicht, wenn einer von uns flüchten
muss. Was nützt es mir, wenn du mit mir kommst?“ Es fiel Linus nicht leicht das
zu sagen. Denn er fürchtete sich. Fürchtete sich davor, alleine zu sein.
„Wenn die Leute wissen, dass du eine
Mondschwinge bist, wissen sie auch, dass ich eine bin. Sie würden mich
meucheln, früher oder später.“
„Du kannst ihnen sagen, dass ich ein
Zerrissener bin. Halb Mensch, halb Mondschwinge. Meine Mutter war eine
Mondschwinge, du bist ein Mensch. Sie werden dich verstehen.“
„Das werden sie nicht.“ Mortis stand auf
und klopfte sich den Schnee von den Knien. „Selbst wenn sie glauben, dass ich
ein Mensch bin, so hätte ich doch mit einer Mondschwinge ein Kind – das reicht
ihnen aus, mich zu hassen, glaub mir. Menschen hassen allzu schnell.“
Aus irgendeinem Grund behagte es Linus
nicht, zusammen mit Mortis zu fliehen. Es war ein unbestimmtes Gefühl, ein
leise Regung, mehr nicht. Und doch war es da, das Unbehagen.
„Ich weiß nicht.“ Er schüttelte den Kopf
und strich sich über die Stirn. „Ich werde gehen. Heute Nacht.“
„Ich weiß. Und ich werde mit dir kommen.“
Mortis nickte. „Doch davor“, flüsterte er „will ich noch ein letztes Mal zum
Bernsteinfest. Dieses eine letzte Mal, will ich noch dort hin. Du weißt, wie
sehr ich es mag, die Bernsteinburg zu sehen, das rote Wasser, die Lichter über
dem See.“ Er lief los, die Hände hatte er in den Manteltaschen vergraben. Linus
sprang auf und rannte ihm hinterher.
„Das ist verrückt“, sagte er. „Auf dem Fest
sind hundert Menschen, die uns kennen.“
„Und tausend, die es nicht tun. Übrigens
sprach ich auch nicht von uns, sondern von mir. Ich will nicht, dass du
mitkommst. Du kannst hier auf dem Friedhof auf mich warten, ich brauche nicht
lang.“
Am liebsten hätte Linus seinem Vater auf
den Kopf geschlagen, dreimal kräftig. Der Mortis, den er
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